Unschuldig
was sich rasch geändert hatte, nachdem das Beleuchterteam mit großen Scheinwerfern angerückt war.
Der Wind blies immer noch kräftig und tupfte kleine Schaumkronen auf den See. Die Äste des riesigen Baumes schwangen mit gespenstischem Knarren über dem Bootsschuppen hin und her. Paula dachte an den Film, in dem sie das isländische Todesritual gesehen hatte. Sie dachte an den kleinen Fabian Berger und an seinen Bruder, der jetzt vielleicht irgendwo mit Manuel unterwegs oder schon abgetaucht war.
Als Max mit den Schutzanzügen kam, sagte er atemlos: »Sie haben die Identität des Toten festgestellt. Es ist Tim Möller!«
Paula hatte es geahnt. »Kein Zweifel?«
»Nein. Er ist es.«
Für einen Moment standen sie regungslos da und sahen einander stumm an. Von irgendwo hörten sie eine Wildtaube gurren.
Paula konnte hier nicht mehr viel tun. Sie fürchtete, dass Berger tatsächlich keine Aussage mehr über Manuels Verbleib machen würde, wäre er erst einmal in Haft. Wenn er sich mit Manuel ins Ausland abgesetzt hatte, würde es noch viel schwerer werden, sie bald zu finden. Aber wo sollten sie noch suchen? Paula hatte das dringende Bedürfnis, alleine zu sein und in Ruhe nachzudenken. Sie beschloss, in die leere Wohnung von Berger zu fahren.
56
I m Wagen überprüfte sie noch einmal ihre Heckler & Koch. Im selben Moment bemerkte sie einen Schatten am Seitenfenster, und die Beifahrertür wurde aufgerissen. Beunruhigt schaute sie auf. Es war Marius.
»Die Jungs beschweren sich darüber, dass du allein fahren willst.« Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. »Ich möchte dich begleiten.«
Paula winkte genervt ab. »Wir können hier niemand entbehren. Die Befragung der Leute ist mir sehr wichtig. Übernimm du das bitte. « Sie konnte Marius ansehen, dass er »Spielverderberin« dachte, als er sich abwandte und die Autotür ein bisschen zu laut zuschlug.
Paula fuhr nach Moabit in die Bochumer Straße. Zwei Beamte warteten in einem Opel Caravan vor Bergers Haus und behielten den Eingang im Auge für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Flüchtige doch noch einmal zurückkehren sollte.
Paula stieg aus, begrüßte die Kollegen und erkundigte sich, wer seit der Fahndung nach Berger das Haus betreten oder verlassen hatte. Die Beamten hatten jeden Einzelnen aufgeschrieben und gaben Paula die Notizen.
Ein heftiger Windstoß kam ihr entgegen und trug winzige Staubpartikel mit sich, die ihre Augen tränen ließen. Als sie nach einem Papiertaschentuch suchte, fuhr ein unbeleuchtetes Fahrrad sie auf dem Bürgersteig fast an. Der Bengel klingelte und brüllte ihr etwas zu, das sie nicht verstand, während er knapp an ihr vorbeisauste. Erschrocken sprang sie zur Seite.
Um in das Haus zu gelangen, drückte sie wahllos auf eine Klingel. Der automatische Türöffner surrte sofort, und sie schob die Tür mit dem Fuß auf, während sie mit dem Taschentuch ihre Augen auswischte. Sie war schon die erste Treppe hinaufgestiefelt, als sie von oben eine Stimme hörte.
»Haben Sie eben geklingelt?«
Sie schaute hinauf und sah auf dem Absatz zum zweiten Stock einen pausbäckigen Mann in Jeans, offenem Hemd und verwaschener Strickjacke stehen.
Sicher einer dieser Mieter, die sich ihre Zeit damit vertrieben, im Treppenhaus herumzustehen, damit sie auch ja alles mitbekamen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit lauter Stimme.
»Danke. Ich sehe mir nochmal die Wohnung von Berger an«, sagte Paula und ging weiter nach oben.
»Die ist doch abgesperrt von der Polizei.«
»Ich bin die Polizei«, antwortete Paula schroff. »Wie ist Ihr Name, bitte?«
»Ich heiße Kottke«, rief der Mann. »Was hat der Berger denn ausgefressen? Ihre Kollegen haben mir vorhin nichts sagen wollen.«
Paula ging wieder ein paar Stufen zurück zu dem Nachbarn. »Wir ermitteln noch. Sagen Sie, haben Sie Herrn Berger in den letzten Tagen mal mit einem kleinen blonden Jungen gesehen? Sechs Jahre alt?«
»Nein, der ist immer alleine. Oder er ist bei der Arbeit. Ich kenne hier jeden seit Jahren. Da würde mir ein kleiner Junge sofort auffallen.«
Paula bedankte sich und ging nach oben. Sie öffnete die Versiegelung der Eingangstür und sah sich in Bergers Wohnung um. Obwohl die Kollegen bereits akribisch alles abgesucht hatten, hoffte sie darauf, irgendetwas zu entdecken, das sie auf eine Idee brachte, wo sie weitersuchen konnte.
Der lange Flur zwischen den beiden Zimmern wirkte düster, auch wegen der braunen Holzvertäfelung an der
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