Unschuldig
oben, um von Staufers Büro aus Hilfe zu holen.
Nur wenige Sekunden später rief Nicolai wieder an. »MACH DAS NICHT NOCHMAL, SONST BRINGE ICH …«
Sie drückte ihn wieder weg und rannte weiter die Stockwerke hinauf.
Erneut klingelte ihr Handy. »WENN DU NOCH EINMAL AUF-LEGST, SCHICKE ICH DIR SEIN RECHTES OHR …«
Außer sich vor Wut und Angst brüllte Paula in den Hörer: »Ich will Manuel ans Telefon haben, sonst rede ich nicht mit dir!«
Wieder beendete sie das Gespräch. Sie zitterte am ganzen Körper und blieb atemlos stehen, als sie den sechsten Stock erreicht hatte.
Tommi rief aus dem Präsidium an, und Paula fiel ihm ins Wort, bevor er etwas sagen konnte: »Tommi, ganz schlechter Zeitpunkt!«
»Wieso?«
»Ich hab ihn, du musst sofort aus der Leitung, ich warte auf seinen Rückruf«, und damit drückte sie ihn weg. Sie starrte auf das Telefon, während sie mit langsameren Schritten weiter nach oben ging, als könnte sie es mit bloßer Willenskraft zum Klingeln bringen. Knapp zwei Minuten später wurde sie wieder von einer unterdrückten Nummer aus angerufen. Sie nahm das Gespräch an. »Hallo?«
»Hallo, Paula, ich bin’s, Manuel.«
»Oh mein Gott, Manuel!« Sie schrie fast ins Telefon. »Wie geht es dir, mein Liebling?« Tränen der Erleichterung liefen Paula über die Wangen, und ihre freie Hand umklammerte das Treppengeländer.
»Gut, ich esse jeden Tag Pizza. Heute habe ich auch …«
Jetzt war Nicolai wieder am Apparat. »Ich will einen Wagen zur Raststätte Seeberg.«
»Nicolai, ich kann Ihnen helfen.«
»Dann kümmern Sie sich um den Wagen.«
»Ich weiß, was mit Ihrem Bruder passiert ist. Sie brauchen Hilfe.«
Nicolai wurde lauter. »Ich brauche ein vollgetanktes Auto und die Sicherheit, dass die Polizei mir nicht folgt. Sonst gar nichts.«
»Ich glaube, ich weiß, wie Sie sich fühlen. Sie müssen sich helfen lassen. Dringend.«
»Mir kann niemand mehr helfen. Ich bin viel zu weit gegangen. Ich will ein neues Leben anfangen. Ohne Vergangenheit.«
»Das geht nicht. Niemand kann vor seiner Vergangenheit davonlaufen. «
»Ich sage es ein letztes Mal: Wenn ich festgenommen werde, werden Sie Manuel nie wiedersehen. Das gilt ebenso für den Fall, dass ich den Wagen nicht innerhalb der nächsten Stunde auf der Raststätte vorfinde.«
»Das habe ich verstanden.«
»Ich will in die Freiheit.«
»Sie können nicht ewig davonlaufen.«
»Glauben Sie mir, ich weiß genau, was ich kann und was ich nicht kann.« Er unterbrach die Verbindung in dem Moment, als Paula auf den letzten Treppenstufen zum neunten Stock angekommen war.
55
D ie Fahndung nach Tim Möller und Nicolai Berger lief auf Hochtouren, und alle warteten fieberhaft auf irgendein Zeichen oder einen Hinweis. Zwar hatten sie Möllers Mercedes auf dem Mittelstreifen des Ku’damms gefunden, von ihm selbst aber fehlte nach wie vor jede Spur.
In der Wohnung von Nicolai Berger wurden zwei Gläser mit Mehlwürmern sichergestellt, aber weder Manuel selbst noch irgendwelche Hinweise auf den Jungen hatten die Beamten gefunden. Auch die befragten Nachbarn hatten kein Kind in Bergers Begleitung gesehen. »Der Vogel ist ausgeflogen und hat uns nur ein paar Würmchen zurückgelassen«, bemerkte Tommi, der bei der Durchsuchung von Bergers Wohnung mit vor Ort war.
Paula saß mit dem Team im Besprechungsraum und ging jede einzelne Möglichkeit noch einmal durch, wo sich Möller oder auch Berger aufhalten könnten. Alle waren angespannt und nervös. Der Polizeipräsident hatte Paulas Vorschlag, Berger ein Auto zur Verfügung zu stellen, mit einem knappen Nein abgelehnt. Der Autobahnring A10 mit seinen zahlreichen Ausfahrtmöglichkeiten war so kurzfristig polizeilich nicht zu überwachen, erst recht nicht im Feierabendverkehr.
Kurz vor neunzehn Uhr kam ein Anruf herein, der alle in Aufruhr versetzte. Ein Jogger hatte der Polizei ein brennendes Ruderboot gemeldet, das auf der Havel in Richtung Naturschutzgebiet Pfaueninsel trieb. Weitere zwanzig Minuten vergingen, bis die Wasserschutzpolizei die Meldung bestätigte, die genaue Position des Bootes durchgab und hinzufügte, eine vermutlich tote Person liege mit Klebebändern gefesselt in dem Boot. Ein Feuerlöschboot wurde über die Leitstelle informiert und zur angegebenen Stelle geschickt.
Paula und Tommi fuhren sofort über die Königsstraße und den Nikolskoer Weg in Richtung Wannsee, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Das große Besteck konnten sie immer noch anfordern.
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