Unschuldig
Untersuchungsgefängnis überstellt.«
13
E r hatte seinen roten Anorak nicht angezogen und auch die blauen Jeans nicht. Ganz in Schwarz war er gekleidet. Schwarz wie diese Nacht und schwarz wie das Haus hinter ihm. Schwarz wie der Tod. Selbst sein Gesicht war gänzlich unter der schwarzen Pudelmütze verschwunden, in die er zwei Schlitze für die Augen geschnitten hatte. Die Ränder waren fein säuberlich verklebt, sodass sie nicht ausfransten. Er konnte die Mütze hochrollen, dann war von den ausgeschnittenen Augen nichts mehr zu sehen.
Er hatte sich extra Urlaub genommen, um seine Aufgaben präzise vorzubereiten und alles endlich Schlag auf Schlag erledigen zu können. Als er auf einen Knopf an seiner Armbanduhr drückte, sprang über dem Zifferblatt ein Licht an. Er beobachtete den Zeiger. Es war schon fast Mitternacht. Über den Adenauerplatz fuhr nur hin und wieder noch ein Auto. Schön, dachte er, in dieser Gegend ist um diese Uhrzeit wenig los. Kaum eine Menschenseele draußen. Niemand, vor dem er sich verstecken musste oder dem er in seiner Vermummung hätte auffallen können. Er war ein Wanderer in der Nacht.
Dennoch beschlich ihn ein beunruhigendes Gefühl, als er zu dem dunklen Eingang gegenüber blickte.
Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere, denn er hatte heute noch etwas vor. Warum kam die Kommissarin nicht? Er wollte beobachten, wie sie ins Haus ging und in welchem Stockwerk danach das Licht angehen würde. Er wollte alles über sie und ihre Schwester und den kleinen Jungen mit dem Lockenkopf herausfinden.
Er dachte an Fabians weiches, lockiges Haar. An die selbst gebastelte Geburtstagskarte für ihn, »Für meinen Lieblingsbruder« – so hatte er ihn oft genannt. Drei Figuren, Mama, großer Bruder, kleiner Bruder, mit großen lachenden Mündern gemalt und mit einer bunten Girlande zusammengebastelt. Er konnte den Stolz des Kleinen fast körperlich spüren, als Fabian zum ersten Mal mit ihm Schlittschuh laufen durfte. Zunächst vorsichtig, dann immer mutiger sauste er mit seinem flatternden gelben Schal und glühenden Wangen übers Eis.
Er musste sich zusammenreißen, durfte sich jetzt nicht in seinen Erinnerungen verlieren. Natürlich wusste er, dass das lange Fernbleiben der Kommissarin an diesem Abend mit ihm zusammenhing. Er selbst hatte schließlich diese Arbeitslawine ausgelöst. Sie würde bestimmt noch im Büro sitzen und mit ihrem Team über den Täter rätseln. Wen würde sie wohl bald verhaften? Oder etwa niemanden? Doch, doch, beruhigte er sich. An irgendjemand mussten sie ihr dumpfes Wüten auslassen. Niemand konnte die heftigen Spannungen aushalten, die ein gewaltsamer Tod auslöste. Und er würde auch endlich die Melodien der Trauer zum Schweigen bringen können, die er seit Fabians Tod jeden Tag und jede Nacht hörte. Jedes Quietschen und Pfeifen der U2 war für ihn leichter zu ertragen als die ewig gleichen Trauergesänge.
Er gab auf. Schließlich hatte er noch etwas Besseres vor. Eine Verabredung, der er schon so lange entgegenfieberte.
Morgen würde er wiederkommen, mit mehr Zeit und einer besseren Ausrüstung, vor allem auch mit Proviant. Und dann würde er sie überhaupt nicht mehr aus den Augen lassen.
14
A m Sonntagmorgen warteten Paula und Manuel vergnügt in der Schlange vor der Theke der Ku’damm-Bäckerei, um frische Brötchen und Croissants für ein gemütliches Frühstück zu kaufen. Die Verkäuferin schenkte Manuel ein Marzipanhörnchen, um ihm die Wartezeit zu versüßen. Er biss sofort hinein und genoss es mit sichtlichem Vergnügen.
Kaum wieder zurück in der Wohnung, klingelte Paulas Festnetztelefon. Am Apparat war ihre Mutter, wie häufig am Sonntagmorgen. Sie war mit ihren fast neunundsechzig Jahren noch immer eine sehr lebenslustige Frau, und Paula hoffte inständig, dass das so bleiben würde. Selbst nachdem der Vater gestorben war – damals war Paula erst zwölf Jahre alt –, hatte sich die Mutter mit den Töchtern erfolgreich »durchgebissen«, wie sie selbst das nannte. Sie gehörte zu dem Typ Frau, der sich nie unterkriegen ließ und stets versuchte, aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie trug das Herz auf der Zunge, besaß Mutterwitz, eine robuste Gesundheit und genügend Energie, um aktives Mitglied in mehreren Vereinen zu sein. Nach dem Tod von Paulas Vater hatte sie sich mit dem einen oder anderen Mann getroffen, aber eine längere Beziehung war nie daraus geworden. »Ich bin froh, dass ich meine Freiheit
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