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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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und prägte sich jedes Detail des Spaziergangs ein wie für eine geplante militärische Operation. Der Junge riss sich immer wieder ausgelassen von der Hand der Mutter los. Er lief ein Stück voraus, im Kreis um sie herum, manchmal auch hinter ihr her, wie ein junger, noch nicht an Folgsamkeit gewöhnter Hund. Er erwartete fast jeden Moment, dass der Junge in seine Richtung lief, direkt in seine Arme, und stellte sich vor, wie er ihn einfing, ihn hochhob und an sich drückte. Er genoss den Gang über die Wilmersdorfer und den Adenauerplatz zum Ku’damm, wo die beiden in einer Bäckerei verschwanden. Der Kleine hüpfte in dem Laden von einem Bein aufs andere. Offenbar forderte er etwas von seiner Mutter, die eindeutige Gesten der Abwehr machte. Schließlich schien sie nachzugeben, denn das Hüpfen hörte abrupt auf, und der Junge schmiegte sich mit strahlendem Gesicht an die Mutter.
    Ein Gefühl von Neid und Sehnsucht erfasste ihn. Gleichzeitig spürte er den Phantomschmerz, der ihn den Verlust seines eigenen kleinen Bruders wieder erleben ließ. Keins dieser Gefühle, mochten sie ihn auch innerlich fast zerreißen, wollte er loslassen.
     

12
    S ascha Buckow weinte, als er die Tür zum Besprechungsraum öffnete. Paula hatte alles Mögliche erwartet, aber keine Tränen. Sie fragte sich, ob er aus Trauer über den Tod seiner Frau weinte oder aus Verzweiflung wegen seines geplatzten Alibis.
    »Möchten Sie Wasser oder Kaffee?«, fragte sie und musterte kurz Kleidung und Schuhe ihres Gegenübers. Er trug teure Budapester und einen dunkelgrauen Maßanzug, dazu ein weißes Hemd und einen edlen, hellblauen Seidenschal anstelle einer Krawatte.
    Buckow schüttelte den Kopf, sackte auf seinem Stuhl mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf in sich zusammen und kämpfte weiterhin mit den Tränen. Leise murmelte er etwas vor sich hin.
    »Ich habe Sie nicht verstanden«, sagte Paula.
    »Ich habe gesagt, dass ich es nicht war«, antwortete Buckow. »Wie hätte ich so etwas tun können? Ich liebe Lea.«
    Paula deutete auf das Diktiergerät auf dem Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«
    Wieder schüttelte Buckow den Kopf.
    Paula nahm einen Schluck von ihrem Wasser und wartete.
    Schließlich sah er mit geröteten Augen auf.
    Sie blickte ihn an, sagte aber immer noch nichts. Allmählich schien Buckow sich zu beruhigen und auch zu begreifen, was von ihm erwartet wurde. »Kann ich bitte eine Zigarette haben?«, fragte er.
    Na prima, dachte Paula. Seit zwei Jahren haben wir ein komplettes Rauchverbot im gesamten Präsidium und allen Diensträumen, aber Zeugen unter Mordverdacht ist es selbstverständlich gestattet zu rauchen.
    »Bitte schön«, sagte sie und bot ihm eine Zigarette an aus dem Päckchen in der Tischschublade, das als eiserne Ration für solche Situationen gebunkert war.
    Er zündete sie sofort an und inhalierte ein paarmal tief. Dann begann er zu reden, und Paula stellte den Aschenbecher auf den Tisch, nachdem sie den Voicerecorder eingeschaltet hatte.
    »Ich war vorgestern so aufgedreht, dass ich einfach nur herumfahren wollte. Mir sind verschiedene neue Projekte durch den Kopf gegangen. Ich wollte überlegen und sortieren, was ich als Nächstes produziere.« Er schluckte und zog an seiner Zigarette.
    »Von wann bis wann genau sind Sie herumgefahren?«
    »Von acht bis nach Mitternacht, so gegen eins, schätze ich.«
    Paula zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind mehr als fünf Stunden nur so durch die Gegend gefahren?«
    »Ja, mir war aber nicht bewusst, dass es wohl doch so lange war.«
    Da wirst du dir schon ein bisschen mehr einfallen lassen müssen, dachte Paula. »Wer hat Sie gesehen?«
    »Keine Ahnung, weiß ich nicht, ich bin einfach nur losgefahren und erinnere mich nicht, wer mich gesehen haben könnte. Ich habe mehrere Runden an der Alster gedreht, bevor ich zum Horner Kreisel gefahren bin. Dann nach Nordwesten und Richtung Berlin auf der A24 über hundertfünfzig Kilometer. Am Dreieck Wittstock habe ich die Richtung Berlin/Potsdam genommen, und kurz nach dem Kreuz Oranienburg bei der Ausfahrt Berlin-Reinickendorf bin ich wieder zurück.«
    »Sie sind nicht in Berlin gewesen?«
    »Nein, das sag ich doch gerade. Ich bin wieder zurück nach Hamburg gefahren. Ich wollte die Kleine im Hotel nicht so lange allein lassen.«
    »Haben Sie irgendwo angehalten, um etwas zu trinken oder zu essen oder auf die Toilette zu gehen?«
    »Nein, habe ich nicht. Ich bin einfach nur gefahren, bis

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