Unschuldig
imaginären Spielgefährten führen. Völlig selbstvergessen. Wie oft hatte er ihn dabei beobachtet, das Herz voller Liebe für seinen kleinen Bruder.
Mittlerweile regnete es, und einige Presseleute drängten. Mehrere Kamerateams hatten auch schon längst ihre Posten bezogen. Alle wollten Antworten auf ihre Fragen. Die Frau, die er auf dem Schirm hatte, trat vor die Gruppe mit den Journalisten und sagte: »Mein Name ist Kriminalhauptkommissarin Paula Zeisberg. Heute Morgen gegen elf Uhr wurde in der Toilette dieses Restaurants die Leiche eines Mannes gefunden. Erste Anzeichen weisen auf unnatürliche Todesumstände hin. Nachdem wir die Angehörigen informiert haben, werden wir seinen Namen bekannt geben.«
Jedes Mal, wenn sie eine kurze Pause zwischen den Sätzen machte, flackerten Blitzlichter auf. Die Fragen prasselten beinahe ebenso schnell auf sie herab. »Wer hat die Leiche gefunden?« »Stimmt es, dass der Mann nackt war?« »Ist der Tote ein Promi?« »Hat der Optiker wieder zugeschlagen?« Der Optiker? Ein ziemlich harmloser Name, den sich die Presseleute da für ihn ausgedacht hatten. Einige Fragen beantwortete die Kommissarin, andere wehrte sie ab. Als sie das Pressestatement für beendet erklärte, gab es lautstarken Protest, aber sie drängte sich schnell durch die Menge, sprang in einen bereitstehenden Wagen und fuhr davon. Er stellte sich unter das Dach der Paris Bar, um vor dem Regen geschützt zu sein. Von da aus beobachtete er wieder das Geschehen vor dem Restaurant. Dieses war der zweite Streich. Doch der dritte folgt sogleich, dachte er freudig erregt. Und dann hol ich der Königin ihr Kind … ach, wie gut!
Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Aus dem Lokal war jetzt die Frau getreten, die zuletzt eingetroffen war und die denselben Koffer trug wie am vorigen Tatort. Jetzt aber steckte der Pferdeschwanz ihres braunen Haares unter der Haube. Die alte Pathologen-Weisheit »Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden« fiel ihm ein: Nur, was würden sie aus diesem Toten schließen können? Wahrscheinlich gar nichts. Dabei lag die Antwort doch so nahe.
»Weiß jemand, wohin die Kommissarin gefahren ist?« – Irgendjemand rief: »Zu der Mutter des Opfers!« Das versetzte die Journalistenmeute in Aufruhr. Sie liefen durcheinander, rüttelten an der Restauranttür und wollten endlich den Namen des Opfers erfahren.
Er lächelte böse. Er kannte den Namen. Und er wusste natürlich auch, wo die Mutter wohnte.
17
E igentlich hätten Paula und Tommi zuerst zur Mutter des Ermordeten fahren sollen, aber Paula wollte den Besuch noch ein wenig hinauszögern und zunächst die Wohnung des Schauspielers in Augenschein nehmen. Vielleicht lebte er mit jemandem zusammen?
Das sechsstöckige Haus, in dem Kleist wohnte, war in den Siebzigerjahren gebaut worden. Die Umgebung in Friedenau wirkte sauber und freundlich. Mit Hyazinthen bepflanzte Blumenkübel säumten die breiten Gehsteige. Der Hausmeister, dessen glatt rasierter Schädel seinem Gesicht etwas Brutales verlieh, erwartete sie bereits im Treppenhaus. Die Wände waren bis zur halben Höhe frisch in einem zitronengelben Farbton gestrichen und an den Rändern mit einer Borte aus dunkelgrünem Eichenlaub verziert. Dem handschriftlichen Mieterverzeichnis an der Wand entnahm Paula, dass Felix Kleist ganz oben wohnte. Sie stapften die gründlich geputzten Treppenstufen nach oben. Im Dachgeschoss lagen zwei Eingangstüren einander gegenüber, an der rechten war Kleists Name in verschnörkelten Buchstaben in ein Messingschild graviert.
Der Hausmeister klingelte sicherheitshalber noch einmal, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, drehte ihn herum und ließ Paula eintreten. »Er wohnt seit drei Jahren hier«, hörte sie seine dunkle Stimme hinter sich. »Ich hoffe, ihm ist nichts Schlimmes passiert? Er ist ein bekannter Schauspieler.«
Paula bemerkte, wie stolz er darauf war, einen Prominenten im Haus wohnen zu haben. Vermutlich glaubte er, Felix Kleist habe einen Unfall erlitten. Sie hatten ihm nichts über das Schicksal des Schauspielers gesagt, nur, dass sie sich in seiner Wohnung umsehen mussten. Er überließ ihnen den Schlüssel und zog sich dann ein wenig widerwillig zurück.
Sie schaltete das Dielenlicht ein. Eine Designergarderobe, ein schmaler hoher Spiegel und ein kleiner Schrank, den Paula öffnete. Alles voller Mäntel und eleganter Jacken.
Das Badezimmer am Ende des Flurs war bis in Augenhöhe weiß gefliest, darüber
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