Unschuldig
musst jetzt sehr tapfer sein.« Sie würde diesen Augenblick nie vergessen.
Frau Kleist wohnte in der Goethestraße, die sich unweit der Wilmersdorfer, einer der ältesten Fußgängerzonen Berlins und eine wichtige Einkaufsstraße in Charlottenburg, befand. Paula schaute durch die trübe Glasscheibe der unverschlossenen Eingangstür in den Flur und betrat dann das Haus. Die Tür zum Innenhof stand offen, Terrakotta-Schalen voller bunter Primeln und fleißiger Lieschen verschönerten den Hof, dessen Mitte ein gewaltiger Kastanienbaum für sich beanspruchte.
Sie atmete tief durch und ging langsam die Treppe hinauf. Bis auf das Knarren der alten Holzstufen war es vollkommen still. Sie musste unbedingt ihre bleierne Hilflosigkeit überwinden und gab sich innerlich einen Ruck.
Ein köstlicher Duft nach Gebratenem kroch durch die Ritzen der Wohnungstür. Paula schaltete ihr Handy aus, damit es nicht mitten in ihre Todesnachricht schrillte, und drückte auf den schwarzen Klingelknopf. Der Ton ging ihr durch Mark und Bein. Erschrocken zog sie ihren Finger zurück.
»Komme!«, rief eine freundliche Stimme von innen.
Hinter dem Spion war ein Schatten zu erkennen, dann wurde die Tür vorsichtig ein paar Zentimeter weit geöffnet, mehr ließ die vorgelegte Metallkette nicht zu. Ein rundes, freundliches Gesicht erschien im Türspalt: »Ja?«
Paula räusperte sich. »Mein Name ist Zeisberg. Ich komme von der Polizei«, sagte sie und räusperte sich noch einmal. »Sind Sie Frau Kleist?«
»Ja, die bin ich. Worum geht es denn?«
»Dürfte ich vielleicht hereinkommen?«
»Wenn Sie sich bitte erst ausweisen würden«, bat die Frau, die nichts zu ahnen schien.
»Ja, natürlich.« Paula zog ihren Dienstausweis aus der Tasche.
Die Frau warf einen flüchtigen Blick darauf und hakte dann die Metallkette auf. Als Paula eintrat, hatte sie das Gefühl, eine kleine heile Welt zu betreten. Die werde ich nun zerstören müssen, dachte sie traurig.
»Was gibt es denn?«, fragte Frau Kleist erneut. Ihre Stimme klang jetzt ein wenig unsicher. Sie bot Paula einen Platz am Küchentisch an und setzte sich selbst auf den Stuhl gegenüber. »Möchten Sie einen Tee?«
»Nein, danke.«
»Geht es um die Sperrung wegen des Flohmarkts am nächsten Wochenende?«, fragte die alte Dame arglos.
Paula fragte sich, was sie da eigentlich tat. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man besser zügig zur Sache kam, wenn man Eltern die Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen musste. Das Zögern machte alles nur noch schlimmer.
»Nein, Frau Kleist, ich komme von der Mordkommission und muss Ihnen leider mitteilen …« Die Gesichtszüge der Frau wurden starr, als würde sie plötzlich begreifen.
»Frau Kleist, Ihr Sohn wurde tot aufgefunden.«
Die Mutter riss den Mund zu einem spitzen Schrei auf. »Das ist nicht wahr! Sagen Sie, dass das nicht wahr ist! Felix ist vollkommen gesund, Sie müssen sich irren.«
Paula erhob sich und legte ihren Arm um die Schultern der zitternden Frau. »Es tut mir so leid, aber Ihr Sohn ist ermordet worden.«
»Nein, das kann nicht sein. Sie müssen sich einfach irren!«, rief Frau Kleist. »Wer sollte ihn denn ermorden? So ein Unsinn! Er hat nie einer Fliege etwas zuleide getan. Wer sollte denn so etwas tun?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es herausfinden.«
»Felix ist mein Ein und Alles.« Die rundliche kleine Frau blickte Paula hilflos an, und ihre Augen füllten sich schlagartig mit Tränen. »Er wollte immer zum Film, groß rauskommen, das war sein Traum. Und das ist ihm gelungen. Ich bin so stolz auf ihn. Nein, das kann einfach nicht sein.« Laut schluchzend barg sie ihr Gesicht in den zitternden Händen. Ihre Schultern und ihr Rücken bebten.
Paula fühlte sich grauenhaft. Wie gerne hätte sie der Mutter irgendetwas Tröstliches gesagt. Doch es gab keinen Trost. »Frau Kleist, ich muss Sie das jetzt fragen. Hatte Ihr Sohn vielleicht doch Feinde?«
»Nein, aber nein, wieso denn Feinde? Er wurde von allen gemocht. Er hatte keine Feinde!« Um Fassung bemüht starrte sie Paula an. »Weiß Benny es schon?«
»Wer ist Benny?«, fragte Paula.
»Das ist sein Freund.« Sie putzte sich die Nase. »Sein fester Freund seit über zwei Jahren. Ich bin zwar nicht verheiratet, Mama, aber fest verpartnert, sagt er immer zu mir.«
»Wie ist sein richtiger Name?«
»Benny, also Ben Bauer.«
Paula dachte sofort an die Initialen auf Felix’ Kettchen.
»Wie sieht er aus? Können Sie ihn
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