Unschuldig
waren zahlreiche rote und gelbe Herzen in unterschiedlichen Größen auf hellblauen Grund gemalt. Auf dem Rand der Badewanne und auch auf dem Waschbecken standen auffällig viele Kosmetikartikel für Herren. Eine zweite Zahnbürste oder Utensilien, die auf einen Mitbewohner deuteten, konnte sie nicht entdecken.
Waren Diele und Bad schon klein, so war die Küche geradezu winzig. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hatte man aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund so kleine Küchen gebaut. Gerade mal genügend Platz, um ein Spiegelei zu braten. Herd, Kühlschrank und die übrige Einrichtung sahen nach Secondhand aus, waren aber gut gepflegt. An der Wand stand ein Zwei-Teller-Küchentisch mit zwei Designer-Plastikstühlen. Darüber prangte ein vergilbtes Filmplakat: Vom Winde verweht . Ein Geburtstagskalender mit handschriftlichen Eintragungen hing daneben. Paula nahm sich vor, später einen Blick darauf zu werfen.
In der Speisekammer standen allerlei Lebensmittel, das meiste davon Produkte aus dem Bioladen: zwölf Tetrapaks Sojamilch, Rübenzucker, verschiedene Sorten Müsli. Sieht fast ein bisschen aus wie bei uns, dachte Paula und musste unwillkürlich lächeln. Seit sie mit Jonas zusammenlebte, gab es immer reichlich Essensvorräte im Haus.
Sie gingen zurück in die Diele und von dort weiter ins Wohnzimmer. Es war überraschend großzügig geschnitten, mit Panoramafenster und einer Glastür, die auf eine große Dachterrasse führte. Wenn die Sonne hereinschien, war das Wohnzimmer sicher sehr hell, selbst bei dem heutigen Nieselregen sah es freundlich aus. Die weiße Couchgarnitur war von Ikea und voller Kissen in verschiedenen Rottönen. Im Bücherregal standen ein paar Taschenbücher und jede Menge DVDs amerikanischer Filmkomödien. Der überdimensionale Flachbildfernseher mit großen Lautsprecherboxen sah neu aus. Einige GEO-Hefte älteren Datums lagen in einem Korb, und auf dem niedrigen Sofatisch waren bunte Teelichter verteilt. Operngesamtaufnahmen von Verdi, Rossini, Puccini und anderen italienischen Komponisten standen in einem Glasregal an der Wand.
»Nett«, stellte Tommi fest. »Und alles so sauber.«
»Ja, aber es wirkt irgendwie inszeniert«, meinte Paula.
Auch das Schlafzimmer war geräumig. Gegenüber der modernen Schrankwand mit großen Spiegeltüren stand ein Doppelbett mit einer silbrig-weiß glänzenden Tagesdecke. Davor lag ein großer bunter Flickenteppich. Paula öffnete den Schrank. Hemden, Jacketts und Hosen hingen ordentlich auf Bügeln, Bettwäsche und Handtücher waren sorgfältig zusammengelegt. Ihr Blick blieb an dem Bett hängen. »Einsam.«
»Was suchen wir hier eigentlich genau?«, fragte Tommi.
»Nichts Bestimmtes«, antwortete Paula, und Tommi seufzte. Sie verbrachten noch eine gute halbe Stunde damit, sich alles genauer anzuschauen, aber sie fanden nichts, was ihnen auch nur den geringsten Hinweis gegeben hätte.
»Der Keller?«, fragte Tommi schließlich. »Wollen wir noch runtergehen und uns dort umsehen? Wir haben ja den Schlüssel.«
Paula nickte. »Mach du das. Oder hast du Angst vor dem schwarzen Mann?«
»Nein, Angst hab ich nur vor meiner Chefin, wenn ich nicht tue, was sie sagt.«
Sie lachte. »Das ist sehr gut. Alles richtig gemacht! Ich packe inzwischen ein paar Dinge zusammen. Den Kalender aus der Küche und seinen Laptop nehmen wir auf jeden Fall mit.«
Nachdem Tommi auch im Keller nichts Interessantes entdecken konnte, fuhr er ins Büro, um mit den Kollegen erste Informationen über den Ermordeten und sein Umfeld zusammenzustellen. Paula machte sich allein auf den Weg zur Mutter des Opfers.
Eigentlich war Paula der festen Überzeugung, dass sie sich als Frau in derartigen Situationen viel einfühlsamer verhalten würde als ihre männlichen Kollegen, musste dann aber doch immer wieder feststellen, dass sie meistens nicht wusste, wie sie das Gespräch eröffnen sollte. Sätze wie »Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen« oder »Sie müssen jetzt ganz stark sein« machten in ihren Augen alles nur noch schlimmer, weil die arme Person vorgewarnt war und Zeit hatte, sich in Sekundenbruchteilen die furchtbarsten Dinge auszumalen. Das Leid war für die Angehörigen oft so erdrückend, dass sie sich erst einmal weigerten, die Realität anzuerkennen. Für die Bewältigung solcher Momente gab es einfach kein Rezept.
Paulas Vater war eines Tages ohne ihre kleine Katze vom Tierarzt zurückgekommen und hatte zur Begrüßung gesagt: »Du
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