Unschuldig
etwas, was man mit Chris Gregor in Verbindung bringen würde, aber ihre tröstenden Worte taten Paula trotzdem gut. Viel stärker jedoch als der Wunsch nach Trost war die Wut in ihr. Mit jeder Minute, die verstrich, mit jeder Stunde, die keine handfesten Hinweise auf Manuels Aufenthaltsort brachte, wurde sie größer.
Sie war wie betäubt von Manuels Verlust, und Wut war die einzige Emotion, die ihr das Gefühl gab, noch am Leben zu sein und etwas vorantreiben zu können. Ich werde dieses Schwein finden , beschwor sie sich selbst immer wieder.
Während sie hinaus in das nächtliche Berlin sah und sich fragte, wo zum Teufel Manuel steckte, wollte sie die Wut, die in ihr aufstieg, nicht mehr unterdrücken. Wut auf den Entführer, Wut auf sich selbst, Wut auf jeden einzelnen Menschen da draußen vor dem Fenster.
Als sie schließlich gegen halb zwei in die Wohnung kam, war alles dunkel und ruhig.
43
P aula erwachte schweißgebadet, das Shirt klebte an ihrem Körper. Wieder hatten Albträume sie verfolgt.
Jonas saß am Bettrand und blickte sie besorgt an: »Ich mach dir einen Tee und ein Leberwurstbrot«, sagte er. »Inzwischen kannst du ja duschen.«
Als sie ins Bad kam, stand Sandra mit dunklen Ringen unter den Augen vor dem Spiegel. »Ich fahre erst nach Hause, wenn Manuel wieder da ist«, sagte sie.
»Das ist doch klar«, erwiderte Paula. »Wir finden ihn bald, und dann haben wir noch ein paar schöne Tage zusammen.« Aus der Duschkabine heraus versicherte sie ihrer Schwester einmal mehr, dass die Polizei alle zur Verfügung stehenden Kräfte einsetze, um herauszufinden, was geschehen war. Während das heiße Wasser wohltuend über ihren Körper lief, dachte sie, dass dies wohl eine Aussage der wachsweichen Art war, denn in Wahrheit warteten sie jetzt auf Tipps aus der Bevölkerung. Aber es war wie verhext. Niemand konnte sich an einen kleinen Jungen erinnern, der unbeaufsichtigt auf der Sybel gestanden haben oder in Begleitung eines Mannes unterwegs gewesen sein musste. Es waren inzwischen drei Tage und drei Nächte vergangen, und Paula und ihre Kollegen kannten die verlässliche alte Polizeiwahrheit nur zu gut, die besagte, dass Verbrechen meist aufgeklärt werden, kurz nachdem sie begangen wurden. Oder nie.
Als Paula aus der Dusche kam, war Sandra nicht mehr im Bad. Sie fand sie im Wohnzimmer im Gespräch mit Jonas. »Was habt ihr bis jetzt gefunden?«, fragte Sandra. In ihrer Stimme schwang deutlich ein Vorwurf mit.
»Die Fahndung hat bisher nichts ergeben«, war Paulas knappe Antwort, während sie sich über das Frühstück hermachte, das Jonas ihr hingestellt hatte. »Die Überprüfung der Autoverleih-Firmen dauert noch an.«
»Was sollen denn die Autoverleiher …?«
»Der Bursche könnte sich ein Fahrzeug beschafft haben. Entweder hat er sein eigenes Auto oder aber ein fremdes benutzt, um Manuel fortzubringen. Er wird wohl nicht die öffentlichen Verkehrsmittel genommen haben. Die Autoverleih-Überprüfung gehört zur Routine.«
»Er könnte auch ein Auto gestohlen haben.«
»Das wird selbstverständlich auch berücksichtigt.«
»Und wenn er ein Taxi genommen hat mit Manuel?«
»Unwahrscheinlich. Alle Taxizentralen wurden entsprechend informiert.«
Es klingelte an der Tür. Sandra sprang auf und begrüßte Max und einen weiteren Beamten. Während Paula mit den Kollegen, die den Tag bei ihrer Schwester in der Wohnung verbringen würden, ein paar Worte wechselte, ging Sandra in die Küche, um Kaffee zu kochen.
»Wir fühlen mit euch«, sagte Max, und der andere nickte stumm und ein wenig verlegen, während sie ihnen dankte. Sie verließ die Wohnung noch vor Jonas, um direkt ins Büro zu fahren. Als sie in ihren Wagen stieg, schaltete sie ihr Handy wieder ein. Sie hatte mehrere Nachrichten auf der Mailbox. Alle betrafen die Koordination der »Zentralen Sachbearbeitung«, in der alle Erkenntnisse aus den verschiedenen Abteilungen zusammenkamen: Spurensicherung, Kriminaltechnik, Überprüfung von Modustätern – also von allen einschlägig Vorbestraften – und Hinweisaufnahme. Oft gab es Probleme bei der Bewertung von Informationen, die dann nur sie vornehmen konnte, weil bei ihr alles zusammenlief. Auch ein Anruf von Herbert war dabei und einer von Tommi, den sie zum Hauptsachbearbeiter der Ermittlungen eingeteilt und der ihr das mit einem stolzen Lächeln gedankt hatte.
Jeden Morgen nach Dienstbeginn und jeweils abends, wenn andere Behörden längst Feierabend hatten, trafen sich alle bei
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