Unschuldig
gleichsam mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen durch eine Luft, die heiß und zäh sei. Ihre Muskeln würden sich bei jeder Regung sträuben, Stimmen klängen blechern in ihren Ohren wie alte Plattenaufnahmen, und das Sprechen koste sie enorme Anstrengung. Jonas hatte ihr erklärt, dies seien die klassischen Symptome eines Schocks.
Paula versicherte Jonas, sie werde sich bemühen, am Abend nicht ganz so spät zu kommen, und beendete das Gespräch. Sie musste sich wieder der Einteilung der Aufgaben zuwenden, was mit der kurzfristig einberufenen Pressekonferenz unterbrochen worden war. Noch immer hatten sie nicht die leiseste Ahnung, wo Manuel steckte. Die beklemmende Stimmung im Team wurde mit jeder Stunde stärker spürbar. Sie hatten nicht einen einzigen brauchbaren Hinweis.
Während Paula die Ergebnisse überflog, die sich auf die Überprüfung der Berliner Mietwagenfirmen bezogen, fiel ihr ein Erlebnis ein, das schon viele Jahre zurücklag: Sie war noch nicht lange bei der Berliner Polizei, da suchten sie ein verschwundenes Mädchen in Kreuzberg. Während die Kollegen einen dringend Tatverdächtigen vernahmen, waren alle Einsatzkräfte mobilisiert, um die Gebäude nach der Kleinen zu durchsuchen. Die Vorstellung, dass das Mädchen vielleicht irgendwo in ihrer Nähe hilflos gefesselt und geknebelt in einem dunklen Versteck kauern könnte, trieb alle an. Paula versammelte die Kollegen, die bereits mit der Anwohnerbefragung befasst waren, am Eingangstor zu der Wohnanlage in der Skalitzer Straße. Dort, zwischen dem Abfallsammelplatz mit mehreren Großraumcontainern und dem Verwaltungsgebäude, war es einigermaßen windstill. Paula teilte den Schutzpolizisten mit, was sie mittlerweile herausgefunden hatten. Ohne dass es ausgesprochen werden musste, war klar, dass alle das Gleiche befürchteten. In der Nähe war bereits die Sirene der Ambulanz zu hören.
In diesem Moment klingelte Paulas Handy. Sie hatte Mühe, ihren Kollegen in all dem Lärm zu verstehen. Das aber, was er ihr mitteilte, schnürte ihr die Kehle zu. »Der Täter hat gerade gestanden. Er hat das Mädchen sexuell missbraucht und erdrosselt.« Und nach einer Pause: »In der Wohnanlage gibt es einen Müllplatz mit Containern. In einen dieser Container hat er die Leiche geworfen. Das tote Mädchen soll dort in einem blauen Müllsack stecken.«
Paula rang um Fassung. Sie stand nur wenige Schritte von der Mülltonne entfernt.
Nach dem erfolglosen und zermürbenden Tag im Büro fuhr Paula gegen Mitternacht endlich in Richtung Sybel. Sie hatte es doch nicht geschafft, früher aus dem Büro zu kommen, und wusste, sie wollte eigentlich noch gar nicht nach Hause, denn dort wartete Sandras vorwurfsvoller Blick auf sie. Also lenkte sie ihren Wagen noch eine Weile ziellos durch die nächtlichen Straßen. Sie versuchte zu spüren, in welche Richtung der Fall sich entwickelte. Aber da war nichts als eine große Leere.
Beim Adenauerplatz bog sie nicht wie gewohnt in die Wilmersdorfer ab, sondern fuhr zunächst stadtauswärts. Hier und da zischte ein Taxi über den nassen Asphalt. Einsame dunkle Gestalten schlurften mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern auf den Gehwegen entlang. Beim Messegelände hielt Paula an einer Ampel und beobachtete einen Hundebesitzer, der mit seinem Köter noch Gassi ging.
Die Totenstunden. Während der Nachtstunden starben die Kranken und Alten friedlich zu Hause oder in einem Krankenhauszimmer. Die Taxis aber fuhren weiter, die Nachtmenschen gingen ihrer Wege. Die meisten Leute schliefen. Nur ein paar wenige traten ihre letzte Reise an.
Paula wartete und verpasste wieder die Grünphase. Sie kam erst wieder zu sich, als die Ampel erneut auf Rot schaltete.
Auf der Straße des 17. Juni schreckte sie zahlreiche schwarze Krähen auf, die im Licht der Scheinwerfer auf sie zu flogen. Sie drosselte das Tempo und lenkte den Wagen langsam an der Siegessäule vorbei und durch das Botschaftsviertel in Richtung Urania. Auf der Kurfürstenstraße standen grell geschminkte Prostituierte auf dem Bürgersteig und unter den Straßenlaternen.
Trotz der vorgerückten Stunde erreichte sie Chris noch. Die Freundin hatte im Laufe des Tages ein paarmal versucht sie zu erreichen, aber Paula hatte es nicht geschafft, sie zurückzurufen. Jetzt hatte sie endlich Zeit und Ruhe dafür. Chris versicherte Paula, dass sie ihre Unerschütterlichkeit und ihren Mut bewundere und für sie alle bete. Beten war eigentlich nicht unbedingt
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