Unschuldig!
Andrew aus dieser Ehe herauszukommen.
Dieser Tag kam früher als erwartet. Es war ein milder Frühlingsabend, und sie befanden sich auf dem Rückweg von einer Wohltätigkeitsveranstaltung, als Paul einen Streit begann. Der Anlass war nichtig, eine völlig unbedeutende Bemerkung, die Julia über einen ihrer Freunde gemacht hatte. Der Wutausbruch endete erst, als Julia mit blutig geschlagenen Lippen erschöpft und hilflos auf dem Boden lag.
Am nächsten Morgen waren Schmerz und Angst das Einzige, was Julia fühlte, aber sie war auch fest entschlossen. Sie machte Fotos von ihrem blau geschlagenen Gesicht und fuhr nach Santa Cruz zu einem Arzt.
Am Abend desselben Tags war sie ins Haus zurückgekehrt, nachdem sie Andrew bei ihrer Mutter abgesetzt hatte. Ihre neu entdeckte Macht ließ sie beinahe leichtsinnig werden, während sie Paul ihre Forderungen erklärte: ihr Schweigen im Austausch gegen ihre Freiheit und das alleinige Sorgerecht für Andrew.
Paul war sich im Klaren, wozu sie in der Lage war, und willigte ein. Er war ein ehrgeiziger Mann mit großen Zukunftsplänen, doch ein einziges Wort von ihr hätte genügt, um aus dieser Zukunft einen Scherbenhaufen zu machen.
Augenblicke später war sie zum letzten Mal aus diesem Haus gegangen.
Und jetzt saß Julia in ihrem Volvo und betrachtete das große, hell erleuchtete Gebäude, während sie sich an jeden Streit, jeden Vorwurf und an jeden Schlag erinnerte. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester. Wie konnte Paul nur glauben, dass sie in diese Hölle würde zurückkehren wollen, auch wenn die “Hacienda” dabei auf dem Spiel stand?
Sie öffnete die Fahrertür, zögerte aber, da sie mit einem Mal von Zweifeln erfüllt war. War es richtig, Paul wegen der Hypothek zur Rede zu stellen? War es sinnvoll, ihm zu zeigen, dass sie sich Sorgen machte? Sicher, sie wollte wissen, was er vorhatte. Aber was, wenn ihre Mutter Recht hatte und er tatsächlich keine hinterhältigen Absichten verfolgte? Sie wollte ihn ganz bestimmt nicht auf dumme Gedanken bringen.
Sie zog die Tür wieder zu. Sie hasste es, so verängstigt und unentschlossen zu sein, aber so reagierte sie immer noch auf Paul.
Fünf Minuten lang saß sie einfach da, bis sie einen Entschluss fasste. Sie startete den Wagen und fuhr nach Hause.
“Oh, Mom, muss ich diese blöde Krawatte tragen?”
Julia unterdrückte ein Lächeln, während sie vor ihrem sechs Jahre alten Sohn in die Hocke ging. Durch sein blondes Haar, die blauen Augen und den kräftigen kleinen Körper erinnerte er sie immer an ihren verstorbenen Bruder Jordan. Und so wie Jordan war auch Andrew ein Energiebündel, das nicht eine Minute lang stillsitzen konnte.
“Ja, das musst du”, erwiderte sie und zog den Windsorknoten zurecht, den er gerade in eine Schieflage gebracht hatte. “Du gehst nachher mit deinem Großvater zum Mittagessen in den Club, und du weißt, wie genau er es nimmt, wenn es um das äußere Erscheinungsbild geht.”
“Aber ich bin noch ein kleiner Junge. Ich muss nicht aussehen wie ein Erwachsener. Und heute ist Samstag.”
Andrews gesunder Menschenverstand, der schärfer war als bei den meisten erwachsenen Männern, die sie kannte, brachte Julia zum Lachen. “Ich weiß, Schatz.” Sie strich über die Krawatte und zwinkerte ihm zu. “Tu mir einfach den Gefallen, einverstanden?”
Andrew seufzte. “Ich hasse den Club. Da sind alles nur alte Männer mit gelben Zähnen und mit stinkenden Zigarren. Die sagen alle immer nur: 'Als ich in deinem Alter war …'“
Julia musste laut auflachen, als Andrew perfekt die zittrige Stimme eines alten Mannes imitierte. “Du bist ein richtiger Komiker, weißt du das?”
Als er einen Finger zwischen Krawatte und Hemdkragen steckte, um den Knoten zu lockern, schob sie seine Hand zur Seite. “Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du deine Krawatte in Ruhe lässt und dich beim Mittagessen benimmst, gehen wir anschließend in die Videothek und leihen uns einen Film aus. Du darfst aussuchen.”
Andrews Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu purer Begeisterung. “Können wir
Die Rache der Ninjas
holen?”
“Schon wieder? Den hast du doch bereits zweimal gesehen.”
“Ja und? Jimmy hat ihn viermal gesehen.”
Julia lachte. “Na ja, wenn das so ist …”
Sein Lächeln wurde schelmisch. “Können wir anschließend noch bei Ben und Jerry ein Eis essen?”
“Du bist ein zäher Verhandlungspartner, Schatz.” Sie schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück. “Na gut, ich
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