Unschuldig!
Donnovan, Pauls langjähriger Sekretärin. Mit ihr würde er sich als Erstes befassen.
Anstatt zu ihr ins Büro zu gehen, wartete er in dem kleinen Park vor dem Kommunalgebäude auf sie, wo Edith nach Aussage der Empfangsdame jeden Tag Pause machte und ihr Mittagessen zu sich nahm.
Anhand der Beschreibung, die er von der Empfangsdame erhalten hatte, erkannte er Edith sofort, als sie das Gebäude verließ. Die Frau, die knapp über vierzig zu sein schien, steuerte zielstrebig auf eine schattige Bank am südlichen Ende des Parks zu. Steve blieb in einiger Entfernung stehen und nahm ihr schlichtes Erscheinungsbild in sich auf, das unscheinbare braune Haar, das mit einem Schal zurückgehalten wurde, die schwarzen Mokassins und die nüchterne graue Kombination.
Mit den Händen in den Taschen ging er zu ihr und blieb in dem Moment vor ihr stehen, als sie eine kleine braune Papiertüte öffnete. “Miss Donnovan?”
Ruhige nussbraune Augen blickten ihn an. “Ja?”
Unaufgefordert setzte sich Steve zu ihr und versuchte, so harmlos zu klingen wie möglich. “Mein Name ist Steve Reyes, ich bin Reporter für die
New York Sun.
Ich hatte gehofft, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten. Es geht um den Mord an Paul Bradshaw.”
Edith holte ein in Klarsichtfolie verpacktes Sandwich aus der Tüte. “Ich habe schon mit der Presse gesprochen”, antwortete sie kurz angebunden.
“Ich weiß, aber ich bin gerade erst in die Stadt gekommen und muss einiges nachholen.”
“Warum reden Sie dann nicht mit Ihren Kollegen? Ich bin sicher, dass einer von ihnen Sie …”
“Würde er nicht.” Als sie ihn überrascht ansah, redete er weiter. “Reporter sind eine vom Konkurrenzkampf geprägte Spezies, Miss Donnovan. Und sie geben nie Informationen weiter.” Es war eine ungerechte Aussage, aber wenn er keine Möglichkeit fand, an ihre sanftmütigere Seite zu appellieren, vorausgesetzt, sie besaß überhaupt eine, war er aufgeschmissen.
Ihre nussbraunen Augen beobachteten ihn aufmerksam, bis er das Gefühl hatte, einen Anflug von Mitgefühl in ihnen zu erkennen. “Ich denke, dass ich mich mit Ihnen unterhalten kann, während ich mein Mittagessen zu mir nehme.” Sie packte ihr Sandwich aus, das in zwei gleich große Dreiecke geschnitten war und das keine Rinde mehr aufwies.
“Danke.” Er entdeckte einen Getränkeverkäufer und zog einen 5-Dollar-Schein aus der Tasche. “Sie sollten etwas zu Ihrem Sandwich trinken”, sagte er. “Orangenlimonade?”
Sie machte einen angenehm überraschten Eindruck. “Woher wissen Sie, dass ich Orangenlimonade mag?”
Steve machte sich eine geistige Notiz, der Empfangsdame einen Blumenstrauß zu schicken. “Gut geraten”, log er.
Als er mit den beiden Dosen zurückkam, öffnete er eine und gab sie Edith.
“Danke.” Sie zögerte kurz, dann bot sie ihm die Hälfte ihres Mittagessens an. Steve schüttelte jedoch den Kopf.
“Während der Arbeit esse ich grundsätzlich nicht”, sagte er. “Das lenkt nur ab.”
Edith nickte, als wüsste sie genau, was er meinte, dann biss sie in ihr Sandwich, das nur mit Käse belegt zu sein schien.
Da er vermutete, dass zu direkte Fragen sie eher in die Defensive treiben würden, führte er sie langsam dorthin, wo er sie haben wollte. “Der Tod von Ratsmitglied Bradshaw muss eine tiefe Lücke hinterlassen haben.” Er sah, wie Angestellte der Stadt das Gebäude verließen. “Ich habe gehört, dass er sehr beliebt war.”
“Paul war einer der nettesten und rücksichtsvollsten Menschen, die ich kannte.” Einen Moment lang hing ihr Blick am Eingang des Gebäudes, als erwarte sie, ihren verstorbenen Chef zu sehen, wie er durch die Türe schritt. “Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihn hätte umbringen wollen.”
“Hatte er keine Feinde, von denen Sie wussten?”
Sie wandte ihren Blick ab und biss wieder in das Sandwich. “Seine Exfrau hat ihn nicht sehr gut leiden können.”
Die recht unverhohlene Anschuldigung überraschte Steve. “Glauben Sie, dass Julia Bradshaw ihn getötet hat?”
In ihren Augen leuchtete Ablehnung. “Sie ist aufbrausend, das weiß jeder hier.”
Die Verbitterung in ihrer Stimme war eine Spur stärker, als er es von einer Sekretärin erwartet hätte – auch einer besonders treuen. War da vielleicht mehr im Spiel als bloße Dienstbeflissenheit? “Ich habe das Gefühl, dass Sie Paul Bradshaw sehr gemocht haben.”
“Das haben wir alle.” Sie kaute langsam weiter, die Lippen fest aufeinander
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