Unschuldslamm
musterte. Er war groß, mindestens eins fünfundneunzig, hatte eine ausgebeulte Levis 501, edle Budapesterschuhe und ein spießiges Tweedsakko an. Darunter trug er unpassenderweise ein Kapuzensweatshirt, das schon bessere Tage gesehen hatte. Es war ein bunt zusammengewürfelter und für den sonst so aus dem Ei gepellten Staatsanwalt Hannes Eisenrauch durch und durch untypisches Outfit. Die grauen Haare standen biestig vom Kopf ab, er hatte Schatten unter den Augen und ließ die Mundwinkel weit nach unten hängen.
Noch bevor sie sich überlegt hatte, ob sie ihn ansprechen sollte, drehte er den Kopf in ihre Richtung. Ruth nickte und grüßte freundlich, aber seiner ausdruckslosen Miene zufolge konnte er sie nicht einordnen. Daher entschied sie sich, ein paar Schritte auf ihn zuzugehen und ihn zu begrüßen. Weniger, weil er ihr so sympathisch war, als vielmehr aus Neugierde. Nachdem der letzte Verhandlungstag so spektakulär geendet hatte, konnte Ruth es kaum erwarten, bis der Prozess fortgesetzt würde. Beinahe stündlich dachte sie daran, was wohl in der Zwischenzeit geschehen war, was die Polizei aus Sibylle Bucherer herausbekam und welche Gründe diese für ihre Falschaussage angeführt hatte.
»Holländer«, sagte sie und grinste den Staatsanwalt freundlich an, bei dem immer noch nicht der Groschen fiel. »Ich bin Schöffin in dem Prozess …«
»Ach ja, Demizgül, jetzt weiß ich«, gab Eisenrauch zurück – nicht eben zuvorkommend.
Ruth öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber der Typ hob seine rechte freie Hand, als wolle er sie abwehren.
»Frau, äh, Holländer, wir können uns leider nicht unterhalten.«
Ruth war so verblüfft über diesen Affront, dass sie lediglich den Mund aufklappen konnte, ihr fiel auf die Schnelle keine passende Entgegnung ein.
Hannes Eisenrauch schien zu bemerken, dass er sie unnötig vor den Kopf gestoßen hatte, und ruderte zurück. »Entschuldigen Sie bitte, das ist nicht persönlich gemeint. Aber als Prozessbeteiligte dürfen wir uns außerhalb des Gerichtssaals nicht austauschen. Ich bedaure.«
»Ach, echt?« Etwas Intelligenteres fiel ihr nicht ein, und Ruth wollte im gleichen Moment in den Boden versinken. Sie stand da wie ein Idiot – ungeduscht, geduzt und ausgebuht, wie es der von ihr sehr geschätzte Max Goldt mal formuliert hatte.
»Hat man Ihnen das nicht gesagt?«, fragte Eisenrauch jetzt etwas freundlicher.
Sein rechter Mundwinkel zuckte, was vermutlich den Anflug eines Lächelns andeuten sollte. Das machte ihn um ein winziges Quäntchen sympathischer, aber Ruth fühlte sich nach wie vor in ihrer ersten Einschätzung bestätigt. Er war ein Arsch.
»Fahren Sie so einen silbernen Pseudogeländeschlitten?«, ging sie zum Frontalangriff über.
Jetzt war es an Eisenrauch, verdattert auszusehen.
»Einen BMW X 5, ja, wieso?«
»Sie sind am 9. Januar mit überhöhter Geschwindigkeit über die gelbe Ampel an der Rathenower Straße gefahren. Und damit nicht genug: Sie sind durch eine Pfütze gerauscht und haben mich bespritzt. Den Mantel musste ich in die Reinigung geben.« Das war eine Lüge, aber sie verfehlte nicht ihren Zweck. Der Staatsanwalt wurde noch blasser und fuhr sich peinlich berührt durch die Haare.
»Das … Vermutlich war ich zu spät zu einem Termin. Das tut mir sehr leid, ich habe es nicht gemerkt …«
»Wie auch, in diesem Panzer«, setzte Ruth hinterher. Jetzt hatte sie die Oberhand, und das gefiel ihr.
»Ich bezahle die Reinigung, das ist ja selbstverständlich.«
Ruth musste nicht lange überlegen. Davon hatte sie gar nichts, nicht einmal Genugtuung. »Ich begnüge mich auch mit einer Bouillabaisse. Und einem Glas Sauvignon.«
Eisenrauch starrte sie an, klappte die Kinnlade runter, um etwas zu entgegnen, entschied sich dann aber anders. »Wenn ich nur ein stilles Wasser nehmen darf?!«
Touché.
Sie nahmen an einem der Bartische Platz, Ruth verstaute ihre Einkäufe, so gut es ging, zu ihren Füßen und warf einen Blick in die Plastiktüte, die Eisenrauch neben seinem Barhocker abgestellt hatte. Ein Pfund Kaffee von der sagenhaften Rösterei in der Halle sowie eine kleine Tüte vom Bäcker und eine Tageszeitung. Ein Singleeinkauf. Andererseits trug er einen schmalen goldenen Ring am linken Ringfinger. Ruth wurde neugierig.
»Aber kein Wort über den Prozess. Das kostet mich den Kopf.« Eisenrauch bedachte sie mit einem kurzen strengen Blick, und Ruth stellte sich vor, dass er Leute beim Verhör so anblickte. Führten
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