Unschuldslamm
Staatsanwälte überhaupt Verhöre? Sie musste sich schamvoll eingestehen, dass sie vom Rechtssystem ihres Landes keine Ahnung hatte. Gerichtsverhandlungen kannte sie aus den amerikanischen Filmen, und in diesen bestanden sie im Wesentlichen aus geschickt geführten Kreuzverhören.
»Sie haben noch gar niemanden ins Kreuzverhör genommen«, begann sie die Unterhaltung.
Hannes Eisenrauch lachte. Er wollte etwas entgegnen, gab aber erst seine Bestellung auf. Er entschied sich spontan für Fish and Chips mit viel Essig und einem alkoholfreien Bier.
»Danke«, kommentierte Ruth erleichtert und erklärte auf seine hochgezogenen Augenbrauen hin: »Dass Sie das fettige Essen bestellen. Dann komme ich mir nicht ganz so verkommen vor mit meinem Wein.«
»Ehrlich gesagt, hätte ich lieber ein richtiges Guinness dazu getrunken, aber dann ist der Tag gelaufen.« Er grinste leicht verschämt, und Ruth musste sich eingestehen, dass er den ersten Punkt auf der Haben-Seite gelandet hatte.
»Wohnen Sie in der Gegend?«, erkundigte sie sich, »normalerweise finden Nicht-Moabiter den Weg nicht unbedingt hierher.«
Er sah sich um und nickte beiläufig. »Ich gestehe, dass ich zum ersten Mal hier bin. Lohnt sich aber. Wirklich, das ist sehr schön gemacht.«
Keine Antwort ist auch eine Antwort, dachte Ruth bei sich. Er wohnt also nicht hier. Er ist verheiratet, kauft aber nur für eine Person ein. Und er muss nicht nach Hause, es wartet also niemand.
»Ihre Frau ist im Urlaub?« Angriff ist die beste Verteidigung, Ruth!
»Was?« Er sah sie an und war aus dem Konzept.
Sie deutete auf den Ring. »Ich habe nur eins und eins zusammengezählt. Sie sind verheiratet, haben aber am Samstagvormittag trotzdem Zeit, mit mir zu essen.«
Hannes Eisenrauch war sichtlich verlegen. Er schüttelte leicht den Kopf und drehte gedankenverloren am Ring, bis er ihr antwortete. »Ich habe im Büro geschlafen.« Er deutete mit dem Kopf leicht in Richtung Landgericht. »Das mache ich manchmal, wenn es sehr spät wird. Ähm. Ist viel Arbeit im Moment.« Er lachte. Es klang gezwungen. »Oder eigentlich immer. Es ist immer viel Arbeit.«
Die Getränke kamen, und sie prosteten sich zu. Ruth suchte in Gedanken nach einem unverfänglicheren Thema, aber eigentlich interessierte sie sich am brennendsten für Sibylle Bucherer, nur leider war das verbotenes Terrain. Außerdem hätte sie ihm gerne gesagt, dass sie nicht verstand, warum sich die Staatsanwaltschaft so auf Aras Demizgül als Täter kaprizierte. Aber auch das war tabu. Noch während sie in ihrem Hirn nach den üblichen Smalltalkthemen kramte – Es soll ja noch mal Winter werden … Die BSR bekommt die Straßenreinigung wieder einmal gar nicht in den Griff … Glauben Sie, der Flughafen wird überhaupt jemals in Betrieb genommen? … –, fragte Eisenrauch sie nach ihrem Beruf. Ruth atmete auf. Sobald sie erwähnte, dass sie ein französisches Bistro führte, erhielt sie im Land der Hobby-Köche und -Gourmets maximale Aufmerksamkeit. Die Gespräche führten dann schnell von den letzten Frankreich-Urlauben und kulinarischen Mitbringseln zu Rezepttipps und Fachsimpeleien über die beste Küchenausstattung. Obwohl sie all das mittlerweile mehr als anödete, war Ruth doch froh, dass sie damit jedes Partygespräch bestreiten konnte und eigentlich mit jedem Gesprächspartner eine Basis fand. Wenn Leute nicht gerade selber kochen konnten, dann gingen sie doch zumeist gerne essen. So auch der Staatsanwalt. Er schien vom Kochen keinen blassen Schimmer zu haben – wie auch, bei der Arbeitsbelastung –, aber umso lieber zu essen. Ruth musste zugeben, dass er nicht nur Interesse, sondern auch kulinarisches Wissen offenbarte.
Über der Bouillabaisse und den in Zeitungspapier servierten Fish and Chips unterhielten sie sich rege über die Küchen verschiedener Länder, die Lieblingsgerichte von zu Hause (Er: Blut- und Leberwurst mit Sauerkraut, Ruth: Grüne-Bohnen-Eintopf, so etwa das einzige Gericht, das ihre Mutter anständig kochen konnte) und die Tatsache, dass die Deutschen mehr Geld für Kücheneinrichtung als fürs Essen ausgaben. Eine Dreiviertelstunde verging fast im Flug, Ruth war der Wein zu Kopf gestiegen, und sie freute sich darauf, dass sie sich zu Hause noch einmal ins Bett legen und einen Mittagsschlaf halten konnte. Auch der Staatsanwalt schien seine Absicht, das Wochenende arbeitend zu verbringen, aufgegeben zu haben, denn er hatte sich nach dem alkoholfreien Bier doch noch ein kleines
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