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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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sagte sie?«
    »Sie gab ihr Geheimnis preis in der leichtesten Weise, wie man seinen Atem ausstößt. Ihre ganze Verkrampfung löste sich auf in einer dunklen ruhigen Ergebenheit.«
    »Was sagte er?«
    »Er war erschrocken. Er streichelte sie, er küßte sie. Er war sehr lieb zu ihr und sehr hilflos. Sie sah diese Hilflosigkeit nicht, nicht das kurze Zurückzucken, die kleine, fast unbemerkbare Veränderung, die ihr Geständnis auslöste. Wie alle Schwachen tat er, als sei nichts geschehen. Sie redet in der sachlichsten Weise über ihre Krankheit. Was sie tat, wie erfolgreich die Blutübertragungen waren, welchen Zeitraum sie sich ausrechnete. Sie können sagen: ein düsteres Gespräch, aber das war es nicht. Das war es nur für ihn. Für sie war es Altbekanntes, dazu noch ohne Schrecken, weil die Liebe den Schrecken aufhob.«
    »Ich kann mir denken«, sagte ich, »was geschah.«
    »Natürlich«, fuhr der Doktor abwesend fort, »es ist kein Kunststück. Er entzog sich ihr, er reiste nach Hamburg, er ließ sich am Telefon verleugnen. Sie trafen sich einmal wieder. Er konnte es wohl nicht verhindern. Er war zu feige, die Wahrheit zu sagen. Er machte Ausflüchte, die sie glaubte, weil sie sie glauben wollte. Sie war sehr lieb, sehr weich. Sie sagte: >Lies mir den Brief vor, ich kann ihn nicht lesen.< Und er fragte: >Warum kannst du ihn nicht lesen?» Sie sagte: >Es geht auf die Augen jetzt. Es ist eine weitere Stufe, ich weiß es. Kleingeschriebenes kann ich nicht mehr lesen.< Sie sagte: »Telefonierst du für mich? Ich habe Schwierigkeiten mit den Zahlen.« Alles dies erschreckte ihn tief. Sie übertrieb ihre Schwierigkeiten, sie wollte seine Fürsorge, sie brauchte einfach jemanden. Sie ahnte, daß er sie nicht liebte, sie bat um seine Lüge.«
    »Log er?«
    »Nein«, sagte der Doktor langsam, »er sah sie nicht wieder. Ein Schwacher, der sich seiner Schwäche schämt, wird böse. Wenn man ihn fragte, was denn nun ist mit Ursula, dann erregte er sich, war geradezu beleidigt: >Die hat Leukämie<, sagte er.«
    Der Doktor stand plötzlich auf. Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das kaum fröhlich war.
    »Ich will Ihnen eine merkwürdige Pointe nicht vorenthalten. Dieser junge Mann lebt nicht mehr.«
    »Er lebt nicht mehr?«
    »Er starb im vorigen Winter. Ein Lastwagen schleuderte auf dem Glatteis und warf ihn gegen einen Zaun. Er stand auf, putzte sich die Kleider ab und sagte: >Na, das ist ja noch mal gutgegangen<, dann brach er tot zusammen.«
    »Und Ursula?«
    Sie begriff die Pointe auch, die darin lag, aber sie machte keinen Gebrauch davon. Sie war nicht einmal auf der Beerdigung. Aber seitdem streunt sie wieder herum.«
    Der Doktor wurde lebhaft. »Gehen wir nun?« Er wollte meinen Koffer tragen, aber das ließ ich nicht zu.
    Ich ging runter, bezahlte, und dann standen wir schließlich draußen. Es war dunkel geworden. Der weiße Wagen war verschwunden.
    Der Doktor sah über das verdunkelte Land hinweg. Es schnitt eine scharf gezackte Kante in einen noch hellen Streifen Himmel.
    »Ich will Ihnen etwas sagen«, lächelte er, »ich liebe dieses Land, die paar Dörfer, die paar tausend Menschen. Man liebt, was man sich bekannt gemacht hat, was einem vertraut ist.«
    Darin hatte er recht.
    Das leere Land war mir nun bekannter geworden. Die Dunkelheit war weniger fremd.
    »Wissen Sie«, sagte er, »es gelingt mir nicht, nur Fälle zu sehen. Ich kann das nicht, und ich wollte es wohl auch nicht. Die meisten Leute haben Berufe, weil es üblich ist, Berufe zu haben. Und die Berufe rangieren nach dem, was sie einbringen. Ich bin da keine Ausnahme. So fing ich auch an. Ich fluchte nicht schlecht, als es mich auf das Land verschlug. Und nun will ich nicht mehr weg.«
    Er grinste mich an. »Dummen Leuten sage ich, ich bin ein Idealist.«
    Der nächste Tag war hell und sonnig. Ich fühlte mich ausgeschlafen und merkwürdig beruhigt. So wie lange nicht.
    Niemand hatte mich geweckt.
    Als ich herunterkam, fand ich mein Frühstück vor. Der Kaffee war noch heiß unter der Haube.
    Ich hörte andauernd die Türglocke, verborgene Türen klappten, das Telefon klingelte und gab ein kurzes Geräusch, wenn irgendwo ein Hörer abgenommen wurde.
    Durch das Fenster sah ich die Patienten kommen und gehen.
    Manche wurden im Auto vorgefahren, manche kamen auf dem Fahrrad, eine Frau sah ich, die von einem Trecker stieg. Plötzlich ging die Tür auf, und der Doktor kam herein. Er trug ein kleines Mädchen von etwa zwölf Jahren auf den Armen,

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