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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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setzte es vorsichtig in einen Sessel und sagte: »Hallo« zu mir. Er stellte zwei Armkrücken daneben, wandte sich gleich wieder dem Kind zu: »Warte hier, ruh dich ein bißchen aus.«
    Er ging eilig wieder hinaus.
    Das Mädchen saß ganz zurückgerutscht im Sessel und hatte die bloßen Beine vorgestreckt, dünne, magere, ungebrauchte Beine. Das Kind spürte meinen Blick, sah mich lächelnd an, ganz unbefangen.
    »Ich habe Kinderlähmung gehabt«, sagte es freundlich, »heute gibt es das nicht mehr.«
    »Ja«, murmelte ich. Das Kind war blond, zart, weißhäutig und sah mich fröhlich-neugierig an.
    »Hast du auch etwas?« fragte es.
    »Nein«, erwiderte ich.
    »Frau Doktor massiert mich immer«, sagte das Kind, »es hat schon viel geholfen.« Dann sagte es einen alten Satz: »Man will auch sehen, daß es was hilft.«
    Das Kind hielt beide Hände auf den Lehnen des Sessels und sah wie eine Dame aus.
    »Wie heißt du?« fragte ich.
    »Gerda Häusler«, sagte das Kind, »ich hab’s mit sieben gekriegt. Ich habe noch drei Geschwister, aber die sind gesund.« Es hob die Schultern und lächelte: »Wen’s eben trifft.« Jetzt kam der Doktor wieder herein, sah das Kind und dann mich an. »Das ist dumm«, murmelte er und wandte sich an das Kind: »Sie haben angerufen, sie können dich nicht abholen. Du sollst das Postauto nehmen.« Er schien zu zögern, sah mich dann an: »Es ist natürlich etwas umständlich für unsere Kleine.«
    Ich erwiderte: »Schon verstanden, Doktor, ich mach’ das gerne. Wohin muß sie?«
    »Besten Dank«, sagte er und wandte sich gleich wieder an das Kind, »er hat das schönste Auto in der ganzen Gegend.«
    So kam es, daß ich das Kind nach Hause fuhr.
    Ich nahm es auf den Arm, es schlang gleich die Arme um meinen Hals.
    »Die Dinger braucht sie auch«, sagte der Doktor und hängte mir die Krücken über den Arm.
    »Ist das ein amerikanisches Auto?«
    »Ja«, sagte ich und setzte das Kind ab. Die Krücken legte ich auf den Rücksitz.
    »Na, das ist was anderes als das Postauto«, sagte das Kind anerkennend.
    Ich fuhr und sah es von der Seite an.
    Es war ein sehr hübsches Kind, und es würde sicher auch ein sehr hübsches Mädchen werden. Alle feinen Linien waren schon da, Hals, Arme, Hände, noch in der Unauffälligkeit des Kindseins.
    Aber es war kein Kind. Sein Schicksal hatte da etwas übersprungen.
    »Du wohnst bei dem Doktor?« fragte das Kind.
    »Ja.«
    »Frauen können auch Arzt werden, ich hab’s mir vorgenommen.«
    »Warum?« fragte ich.
    »Weil es was ist. Es ist etwas«, sagte das Kind und lächelte mich an, als wolle es mir zeigen, daß ich ihm sympathisch sei.
    »Was ist denn dein Vater?« fragte ich.
    »Holzhändler«, antwortete das Kind, »aber ich glaube nicht, daß das was Besonderes ist. Er selber sagt es auch. Was bist du?«
    »Auch nichts Besonderes«, sagte ich.
    Wir fuhren nach Siedmannshausen und bogen dann nach Hartholz ab. Am Horizont standen jetzt die dunklen Wälder des Staatsforstes.
    »Hältst du mal an«, sagte das Kind plötzlich, »ich möchte dir etwas zeigen.«
    Ich bremste.
    Die Landstraße war leer, links und rechts Weiden.
    »Laß mich mal aussteigen«, bat das Kind.
    »Aussteigen?« wunderte ich mich.
    Sie lächelte. Ich stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür.
    »Stell mich nur auf die Erde.«
    Ich tat es. »Bitte«, sagte das Mädchen, »jetzt geh in die Wiese.«
    Zögernd ging ich in die Wiese hinein.
    Das Kind hielt sich am Auto fest, verfolgte jeden Schritt.
    »Noch weiter«, sagte es.
    Bis ich schließlich stehenbleiben durfte.
    Das Kind wurde ganz ernst vor Anspannung. Es stieß sich vom Auto ab und ging auf mich zu. Es ging ganz langsam, setzte vorsichtig und mit großer Anstrengung Fuß vor Fuß. Es hielt die Arme ausgestreckt, als balanciere es. Seine Blicke waren abwechselnd auf den Boden und auf mich gerichtet, als gäbe es nur diese beiden Punkte.
    Das Kind kam näher. Es hatte auf der Stirn einen ganz leichten Schimmer von Schweiß. Dann lächelte es und hielt sich an meinen Armen fest. Man sah die Ader am dünnen Hals flattern.
    »Du hast Angst gehabt?« fragte das Kind gespannt.
    »Ja.«
    »Niemand weiß nämlich, daß ich das kann. Daß ich schon so weit gehen kann. Nur der Doktor weiß es.«
    Es lachte mich an.
    »Meine Mutter hat im Mai Geburtstag. Ich schenke ihr das zum Geburtstag.«
    »Ja«, murmelte ich, »hat der Doktor dich auf den Gedanken gebracht?«
    Sie nickte. »Er hat gesagt: >Na, wenn du das vorführst, da

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