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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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zusammen sind.«
    »Wahrscheinlich«, gab ich zu.
    Im Plaudertone fuhr sie fort: »Man ist meist selber nicht interessiert, zu viele Details von sich zu offenbaren. Man nimmt das falsche Bild, das andere sich machen, hin, besonders wenn es schmeichelhaft ist.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Wenn Sie länger hier sind«, setzte sie hinzu, »werden Sie viel über mich erfahren. Nicht nur die eine Sache.« Ihr Blick blieb gesenkt, als sie dies sagte, aber ihre Stimme schwankte nicht. »Das meine ich jetzt nicht, sondern rein äußere Dinge, die man ganz falsch zusammensetzen kann. Sie werden sehr rauhe Urteile über mich hören. Man wird sagen: Die hat ganz flott gelebt. Sie ging von einem Bett ins andere.«
    Jetzt sah sie mich an.
    Ich grinste: »Ich hab’ schon gehört.«
    »Ach«, sagte sie und steckte sich jetzt die Zigarette an. Dann sagte sie: »Ich habe mich verändert. Alle diese Dinge spielen keine Rolle mehr.«
    Sie lächelte und sah mir direkt in die Augen. »Übrigens seit unserem Spaziergang nicht mehr. Aber es hat wohl nicht viel mit Ihnen zu tun, sondern — es ist einfach soweit .“
    »Ja«, murmelte ich, und mein Herz bewegte sich. Es war ein Gefühl wie ein plötzlicher scharfer Schmerz.
    Die Frau vor mir war auf einem Wege, auf dem sie schnell fortgerissen wurde — und sie war mir weit voraus.

8

    »Was bedrückt Sie?« fragte Ursula mich und sah mich offen an. »Nein«, fuhr sie gleich fort, »sagen Sie es nicht. Es ist nicht erlaubt und nicht nötig, darüber zu reden.«
    Sie lächelte schwach: »Ich habe manchmal unter Rückfällen zu leiden. Unter Rückfällen in ein normales Leben.«
    Sie sagte dies Ungeheuerliche ohne jede Betonung. Es kam ihr leicht, fast nebenbei von den Lippen.
    »Ich war manchmal versucht, loszuheulen. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe es getan.«
    Sie lächelte: »Man weint sich die Augen leer, und es bewirkt nichts. Das habe ich begriffen und tue es nun nicht mehr.«
    Ich streckte ihr die Hand hin, ich konnte gar nicht anders.
    Sie nahm sie in einer Bewegung, als müsse sie mich trösten.
    »Ich lese jetzt viel«, sagte sie, »aber ich finde wenig, was mir nützt. Da werden die ganz falschen Dinge wichtig genommen. Es ist sehr komisch, und es erheitert mich nicht einmal. Es sind lauter Nichtigkeiten, die in diesem Leben, im Leben normaler Menschen, einen so großen Platz eingenommen haben.«
    »Ja«, sagte ich, »das glaube ich.«
    Sie senkte den Blick, die hauchzarten Augenwimpern bewegten sich nach unten.
    »Es gibt wenig Leute, die das wissen«, sagte sie, »und ich hatte das Gefühl — beim ersten Male, als ich Sie sah, daß Sie es wissen.«
    »Ja«, sagte ich leise. »Ich ertrug das normale Leben nicht mehr. Deswegen kam ich hierher.«
    »Und der Doktor half Ihnen«, stellte sie fest.
    »Das tat er. Er half mir mit seinem Beispiel.«
    »Ja«, sagte sie leise, »er ist ein ungewöhnlicher Mann. Er hat
    eine große Last auf sich genommen, ohne dafür entlohnt zu werden — ohne Entlohnung im gewöhnlichen Sinne. Aber das bedeutet ihm doch wohl nicht viel.«
    Ganz plötzlich stand sie auf. »Sie werden gehen müssen.«
    Sie lächelte, und ihr Lächeln belebte das weiße Gesicht, als breche das Lächeln durch ihre Haut und schaffe eine Lebendigkeit, die von keiner gewöhnlichen Art ist. Sie streckte mir die Hand hin und sagte: »Danke.« Weiter nichts. Nur dieses leichte >Danke<.
    Ich ging und war von sehr zwiespältigen Gefühlen erfaßt, von gewisser Freude ebenso wie von unbestimmter Trauer. Ich hatte nicht alles gesagt und nicht alles getan. Aber ich wußte nicht recht, was ich hätte sagen und was ich hätte tun sollen.
    Ich traf den Doktor in seiner Praxis. Ich erzählte ihm von meinem Besuch, und er hörte mir ruhig zu.
    Er sagte leise: »Die Begegnung mit dem Tode erschüttert Sie. Mit dem Phänomen Tod, das an einem lebendigen Menschen demonstriert wird. Ein Grab ist eine abgeschlossene Sache. Mit jedem Grab ist etwas zu Ende, und was beginnt, ist die Arbeit der Erinnerung. Und jede Erinnerung kennt nur eine Richtung: blasser und farbloser zu werden.«
    Er sah mich forschend an. »Halten Sie das schon aus?« fragte er mich, »solche Begegnungen, solche Gespräche? Sie sind gefährlich.«
    »Ich weiß«, sagte ich kurz. Ich fühlte, daß er recht hatte.
    »Es wird eine Gesundheit von Ihnen gefordert, die Sie vielleicht nicht haben.«
    »Mag sein«, wehrte ich mich.
    Ein Telefonanruf unterbrach unser Gespräch.
    Ich kannte inzwischen schon die aufmerksame Haltung,

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