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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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möchten), aber es zeigt, dass Ziele verstehen und Handlungen vorhersagen eng zusammenhängende Phänomene sind und dass Spiegelneuronen uns möglicherweise ein Gefühl für die unmittelbare Zielsetzung einer beobachteten Handlung (zum Beispiel die Apfelsine bekommen) vermitteln.
    An sich ist selbst diese pragmatische Form des Verstehens von Absichten ein kleines Wunder. Mein Wunsch, die Apfelsine zu bekommen, ist in meinem Kopf verborgen, aber durch Beobachtung meines Verhaltens spürt der Affe meine verborgenen Absichten. Durch die Spiegelneuronen erwerben Affen praktisch »telepathische« Fähigkeiten. Noch einmal: Statt einen komplexen Satz von Schlussregeln zu verwenden, mit denen der Affe Absichten aus Verhaltensweisen ableiten müsste, bildet er das Verhalten anderer Individuen auf das eigene ab und aktiviert dadurch ein Empfinden für die beobachteten Handlungen. Dazu stützt er sich auf eine verkörperlichte Simulation, bei der er sich stärker am Apparat der Bewegungssteuerung orientiert als an abstraktem Denken.
    Die neue, durch das beschriebene Paradigma ermöglichte Perspektive weist eine viel größere Nähe zu unserer Lebenserfahrung auf: Wir sind nicht fortwährend gezwungen nachzudenken, während wir uns einen James-Bond-Film anschauen, vielmehr scheint sich unser Körper anzuspannen, wenn Bond angespannt ist, und wir fühlen, was Bond fühlt. Natürlich kann abstraktes Denken eine solche verkörperlichte Simulation auf wichtige Weise ergänzen, indem es uns ermöglicht, verborgene Faktoren (die wir nicht aus unmittelbarer Erfahrung kennen) in unseren Überlegungen zu berücksichtigen. Doch das ist offenbar nicht der einzige Weg, Einsicht in andere Individuen zu gewinnen. Die vorbewusste verkörperlichte Simulation, die von Spiegelneuronen geleistet wird, ist möglicherweise von grundlegender Bedeutung für unsere soziale Intuition.
    Wie Spiegelneuronen die Nachahmung bahnen
    Als ich Vittorio zum ersten Mal über Spiegelneuronen sprechen hörte, dachte ich, diese Nervenzellen müssten die Grundlage jenes Lernens sein, das auf der Beobachtung anderer beruht. An der School of Psychology der University of St. Andrews, wo ich mich auf meine Promotion vorbereitete, wirkten damals mit Andy Whiten und Dick Byrne zwei der weltweit bedeutendsten Fachleute auf dem Forschungsfeld der kognitiven und sozialen Fähigkeiten von Primaten. Durch sie erfuhr ich, dass Tier- und Menschenaffen bestimmte Fertigkeiten erlernen können, indem sie einander beobachten.
    Ein bekanntes Beispiel ist das Kartoffelwaschen. Wenn ein junger Affe eine Kartoffel im Boden findet, könnte er sie natürlich sofort verspeisen, hätte dann aber den unangenehm knirschenden Sand zwischen den Zähnen. In Japan hat man Affen beobachtet, die ihre Kartoffel in Salzwasser wuschen – eine einfache Verrichtung, die den Sand entfernt und Salz hinzufügt, das, wie wir alle wissen, Kartoffeln schmackhafter macht. Interessanterweise sind diese japanischen Affen die einzige Gruppe, von der bekannt ist, dass sie Kartoffeln wäscht. Also müssen die Affenjungen von den erwachsenen Tieren lernen, wie Kartoffeln gewaschen werden. Das Waschen ist eine lokale Tradition geworden und wird häufig als Beispiel für Kultur – das heißt, der Wissensvermittlung in einer Gesellschaft – herangezogen. Da die Kultur für unsere eigene Spezies so eminent wichtig ist, wurde der Kulturvermittlung bei Affen großes Interesse entgegengebracht, wobei die Frage, wie die Schüler-Affen von den Lehrer-Affen lernen, von entscheidender Bedeutung war.
    Wenn man von Spiegelneuronen hört, könnte man denken: »Kein Problem. Wenn ein Affe einen anderen seine Kartoffeln waschen sieht, werden seine Spiegelneuronen aktiviert, und der Schüler beginnt das Verhalten nachzuahmen: Er wäscht seine eigenen Kartoffeln.« Das glaubte ich auch. Doch alle Primatologen erzählten mir, dass Affen möglicherweise Spiegelneuronen haben und durch Beobachtung lernen, aber dass sie nicht im strengen Wortsinn nachahmen. Ich war überrascht, doch sie sagten, strenge Nachahmung bedeute nicht nur Lernen durch Beobachtung, sondern auch die Fähigkeit, die Bewegungen, mit denen das Vorbild die Handlung ausführt, genau zu kopieren. Affen lernen zwar, Zielsetzungen anhand von Beobachtungen umzusetzen, entwickeln dabei aber in der Regel eigene Wege. Der Unterschied zwischen strenger Nachahmung und zielorientiertem Lernen bereitete mir jahrelanges Kopfzerbrechen. Ich verstand ihn erst viel später,

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