Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
der Evolution sprechen. Die letzte Mutation ereignete sich wahrscheinlich während der letzten zweihunderttausend Jahre – genau zur Entstehungszeit des modernen Menschen.
Die Entdeckung und Untersuchung von FOXP 2 verrät uns zwei Dinge. Erstens können wir angesichts der auffällig diskontinuierlichen Mutationsrate dieses Gens davon ausgehen, dass die endgültige Entwicklung der Sprache, einschließlich flüssiger Artikulation und Grammatik, relativ neue Errungenschaften der menschlichen Evolution sind. Zweitens spricht der Umstand, dass eine einzige Mutation im menschlichen FOXP 2-Gen vor allem auf die an der Bewegungssteuerung beteiligten Hirnregionen einwirkt, für die These, dass das motorische System eine Schlüsselrolle für viele Aspekte der Sprache spielt.
Überbrückung der unerklärlichen Kluft zur Sprache
Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sagte, dass ein besessener Bastler um 1100 v. Chr. ein Auto mit Verbrennungsmotor aus Stöcken, Seilen und Eisenteilen zusammengepfriemelt hat? Natürlich nicht. Würden Sie mir glauben, wenn ich stattdessen behaupten würde, dass ein Freund meines Vaters, auch ein leidenschaftlicher Bastler, aus zwei Motorrädern ein Auto mit einem Verbrennungsmotor gebaut hat? Möglicherweise. Die zweite Geschichte ist aufgrund des Ausgangsmaterials glaubhafter. Zwei Motorräder sind zwar noch kein Auto, aber wir können uns vorstellen, dass ein Bastler das hinkriegt. Schließlich hat er alles, was er für die Aufgabe braucht.
Ähnlich verhält es sich mit der Sprache und der Entdeckung der Spiegelneuronen. Vor der Entdeckung der Spiegelneuronen, Anfang der neunziger Jahre, wussten wir nichts über FOXP 2 und sehr wenig über das, was die Gehirne von Tier- und Menschenaffen der Evolution für die Herstellung der Sprache zu bieten hatten. Dann wurden die Spiegelneuronen, die aktiv sind, wenn wir eine Handlung ausführen und wenn wir die Handlungen anderer sehen/hören, im prämotorischen Kortex entdeckt. Auffällig ist, dass genau diese Region ebenfalls aktiviert wird, wenn ich Sie auffordere, zu sprechen oder dem Sprechen anderer zu lauschen. Tatsächlich war der prämotorische Kortex, insbesondere sein ventraler Teil, bereits im 19. Jahrhundert für seine Rolle beim Sprechen bekannt – lange bevor man irgendetwas von Spiegelneuronen wusste.
Damals hatte der französische Arzt Paul Broca einen Patienten, der eigentlich Leborgne hieß, aber von allen Leuten im Krankenhaus nur »Tan-Tan« genannt wurde, weil er trotz guten Sprachverständnisses nur ein Wort sagen konnte: tan . Nach Leborgnes Tod nahm Broca eine Autospie des Gehirns vor und stellte fest, dass die unteren Regionen seines linken Frontallappens (die den prämotorischen Kortex mit den Spiegelneuronen enthalten) durch Syphilis oder Schlaganfall erheblich geschädigt waren.
Broca vertrat die Ansicht, diese Region – heute als »Broca-Areal« bezeichnet – verleihe uns die Fähigkeit zu sprechen. Neuere f MRT - und PET -Studien legen die Annahme nahe, dass der linke ventrale prämotorische Kortex, der die Spiegelneuronen enthält, zwei wichtigen Sprachfunktionen dient. Der weiter vorn gelegene Teil scheint besonders aktiv zu sein, wenn Versuchsteilnehmer grammatikalische Sätze hervorbringen oder verstehen sollen, während der weiter hinten gelegene Teil offenbar für die Artikulation und für die Wahrnehmung der von anderen geäußerten Silben zuständig ist. 35
Die Spiegelneuronen der Affen liegen also in einem Teil des Gehirns, der bei uns für die Sprache zuständig ist und der unter anderem vom FOXP 2-Gen codiert wird. Sie befinden sich an der richtigen Stelle, um für die Sprachevolution von Bedeutung zu sein – genau wie sich die Brustflossen der Fische an der richtigen Stelle befinden, um als Vorläufer der vorderen Gliedmaßen von Vierbeinern in Frage zu kommen.
Theoretisch könnte das zwar reiner Zufall sein, doch es gibt noch andere Merkmale der Spiegelneuronen, die diese zu geeigneten Protagonisten der Sprachevolution machen. In allen Schritten des oben vorgeschlagenen Szenarios spielen sie eine wichtige Rolle.
Grundlage Nr. 1: Erkennen, dass eine Botschaft ankommt
Die meisten von uns sprechen höchst selten mit Stühlen oder Türen. Und das mit gutem Grund – die reagieren nicht. Ehepartner reagieren zumindest manchmal, daher sprechen oder schreien wir mit ihnen. Unsere Haustiere antworten nicht, trotzdem sprechen wir mit ihnen, weil sie wenigstens reagieren, wenn wir etwas sagen.
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