Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
den 15 bis 20 Buchstaben, die die meisten von uns in einer Sekunde lesen oder hören können, nie mehr als 2 bis 3 Pieptöne erkennen konnten. Ein solches Tempo mochte für einen Morsetelegrafisten des 19. Jahrhunderts angehen, doch um ein Buch wie das vorliegende zu lesen, würden Sie bei einer solchen Geschwindigkeit volle drei Wochen brauchen – viel zu langsam. Wie kommt es, so fragten sich Liberman und seine Kollegen, dass wir 15 bis 20 Buchstaben, aber nur 2 bis 3 Pieptöne pro Sekunde unterscheiden können? Um diese Frage zu beantworten, betrachteten sie etwas genauer, welche Laute beim natürlichen Sprechen eine Rolle spielen und wie sie wahrgenommen werden.
Mit Hilfe eines akustischen Spektrografs, der die Häufigkeit eines Schallereignisses in einem bestimmten Zeitraum angibt, erstellten sie Spektrogramme – Bilder, die die wichtigsten physikalischen Merkmale eines Lautes wiedergeben. Spektrografie- Playbacks ermöglichten ihnen, Spektogramme zu modifizie ren oder sogar vollkommen künstliche Spektrogramme herzustellen und sie Versuchspersonen vorzuspielen. Zu ihrer Bestürzung mussten Liberman und seine Kollegen feststellen, dass es keine eindeutige Beziehung zwischen den physikalischen Eigenschaften eines Sprachlauts und seiner Wahrnehmung gibt. Beispielsweise sind die Konsonanten /k/ und /p/ beide sogenannte »Stopp-Konsonanten«, bei denen der Luftstrom während der Lauterzeugung plötzlich abgeschnitten wird, doch für /p/ schließen Sie die Lippen, während Sie für /k/ die Zunge an den Gaumen pressen. Im Spektrogramm sind sowohl /p/ als auch /k/ als Energieausbrüche von ungefähr 1440 Hz sichtbar. Da Konsonanten stets mit Vokalen verknüpft sind, untersuchte Liberman, wie Menschen einen solchen Energieausbruch im Umfeld verschiedener Vokale wahrnehmen. Wie er feststellte, wurde ein physikalisch identischer Energieausbruch vor /a/ als /k/ wahrgenommen, vor /i/ oder /u/ jedoch als /p/.
Natürlich stellte sich die Frage, wieso bei ein und demselben Laut verschiedene Buchstaben wahrgenommen werden können. Der Grund könnte einfach darin liegen, dass sich beim Sprechen ein 1440-Hz-Ausbruch nur dadurch erzeugen lässt, dass man die Zunge gegen den Gaumen presst, wie es beim /k/ geschieht. Vor dem /i/ oder /u/ dagegen muss man dazu die Lippen schließen, wie im Fall des /p/. Aufgrund dieser und ähnlicher Beobachtungen gelangte Liberman zu zwei Schlussfolgerungen.
Die erste lautete, dass wir nicht in Form von einzelnen Buchstaben sprechen, sondern dass sich die Eigenschaften aufeinanderfolgender Vokale und Konsonanten gegenseitig beeinflussen, das heißt, wir koartikulieren. Infolgedessen gibt es beim Wort »Papa« Belege für das /a/ während des /p/ und für das /p/ während des /a/. Obwohl das bedeutet, dass wir pro Sekunde nicht 15 bis 20 einzelne Buchstaben hören, erklärt es auch, dass Computer sich mit der Spracherkennung schwertun, weil sie einfache Signaturen wie zum Beispiel 1440 Hz = /p/ vorziehen.
Interessanter für das Spiegelsystem ist Libermans zweite Schlussfolgerung. Danach erkennen wir die Phoneme von Menschen nicht, indem wir ihnen einfach zuhören, sondern indem wir im Vokaltrakt die Aktivität ausführen, die uns auch zur Hervorbringung dieser Laute dienen würden. Wenn wir also 1440 Hz vor einem /a/ hören, pressen wir im Geiste unseren Zungenrücken gegen den Gaumen, weil das die Bewegung ist, mit der wir den Laut erzeugen würden, und deshalb fühlen wir ein /k/. Seine Theorie wurde als motorische Theorie der Sprachwahrnehmung bekannt. Wir beseitigen die Mehrdeutigkeit der Laut-Buchstaben-Beziehung, indem wir das, was wir hören, motorisch nachbilden.
Natürlich hat die motorische Theorie der Sprachwahrnehmung sehr große Ähnlichkeit mit der Wirkung der Spiegelneuronen, wenn sie motorische Programme aktivieren, die auf dem Geräusch von Aktivitäten beruhen – wobei es sich hier um Aktivitäten des Vokaltrakts handelt. Daher hat die Entdeckung der Spiegelneuronen im Allgemeinen und der auditiven Spiegelneuronen im Besonderen zu einer Wiederbelebung der Liberman’schen Ideen geführt. Heute untersucht man auf drei Forschungsfeldern die enge Verbindung zwischen der Wahrnehmung von Phonemen und der Aktivität des Spiegelsystems.
Erstens zeigen f MRT -Experimente, dass die akustische Darbietung von Unsinn-Silben die gleichen Regionen des prämotorischen Kortex aktiviert, die wir verwenden, wenn wir diese Silben sprechen oder unsere Lippen bewegen. Zugleich ist es die
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