Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Erfahrung, das Objekt schon einmal genommen zu haben, scheint erheblich zum Interesse an der Handlung beizutragen. Doch nach zehn Mal schaut auch Anne, wie Alison, nur noch zehn Sekunden hin, was darauf schließen lässt, dass sie gleichfalls gelangweilt ist. Die beiden Spielzeuge werden vertauscht, sodass die Versuchsleiterin jetzt die Hand auf der anderen Seite nach dem Ball ausstreckt. Genau wie Alison beobachtet Anne die Bewegung jetzt wieder dreißig Sekunden lang, was zeigt, dass der neue Weg die Handlung etwas interessanter erscheinen lässt. Doch jetzt streckt die Versuchsleiterin die Hand nach dem Teddy aus – dem neuen Ziel. Und siehe da – Anne betrachtet den Reiz wieder sechzig Sekunden lang. Offenbar findet sie das neue Ziel weit interessanter als einen neuen Weg. Dass sie einige Minuten mit einem Handschuh gegriffen hat, verändert viel für ihr Gehirn, denn jetzt erkennt sie, dass Ziele einen besonderen Charakter besitzen. Nachdem sie den Anblick ihrer Hand bei der Berührung eines Gegenstands mit der Erfahrung, das Objekt zur Verfügung zu haben, verknüpft hat, nimmt sie die Handlungen anderer Personen verändert wahr – so wie unsere Hebb’sche Theorie es vorhersagt. X
Ohne Kletthandschuhe erleben Kinder erst mit sechs oder acht Monaten, was für ein Gefühl es ist, ein Objekt zu ergreifen. 81 Interessanterweise können Kinder, die nicht diesem Kletthandschuh-Training unterzogen werden, auch erst etwa in diesem Alter dem Reiz des neuen Ziels etwas abgewinnen. Offenbar müssen wir alle zunächst uns selbst beim Ergreifen eines Objekts sehen, um zu verstehen, dass die Handlung des Handausstreckens ein Ziel hat, und diese Einsicht übertragen wir dann unmittelbar auf unser Verständnis für die Handlungen anderer Menschen. XI
Lallen erzeugt ein Spiegelsystem für Sprache
Hebb’sches Lernen lässt sich auf mehr als nur Handtätigkeiten anwenden. Es könnte auch für die Entstehung gemeinsamer Schaltkreise während der Sprachentwicklung sowie für unser Verständnis von Sinneswahrnehmungen und Emotionen von Bedeutung sein. Außerdem gibt es ein Spiegelsystem für Handlungsgeräusche, insbesondere für die Geräusche von Mundbewegungen. 8, 9, 37–39, 50 Die könnten beim Erwerb des Sprechens eine besondere Rolle spielen, weil wir gehörte Sprachlaute in das motorische Programm zur Erzeugung ähnlicher Laute übersetzen. Bei Kleinkindern gibt es ein typisches Verhalten, die sogenannte Lallphase. In den ersten Lebensmonaten geben Babys spontan Gurgel- und Gluckslaute von sich, die Vokalen ähneln (»aaaah«, »ooooh«). Mit ungefähr vier Monaten beginnen sie, Konsonanten hinzuzufügen (»gaga« und »dada«). Vom sechsten bis zum zwölften Monat erproben die Kinder spielerisch verschiedene stimmliche Äußerungen, um herauszufinden, was für Laute sie erzeugen können. Lallen ist kein Kommunikationsversuch, trotzdem muss es irgendeinem Zweck dienen, sonst fände es nicht statt.
Aus Hebbscher Perspektive entspricht das Lallen der Selbstbeobachtung. Wenn ein Kind lallt, dürften die Neuronen im prämotorischen Kortex, die für die Hervorbringung stimmlicher Laute verantwortlich sind, gleichzeitig mit den Neuronen im sensorischen Kortex feuern, die auf das Geräusch – den Laut – der Handlung reagieren. Wie oben beschrieben, wird das die Neuronen, die für die Repräsentation bestimmter Stimmlaute im sensorischen Kortex zuständig sind, veranlassen, sich mit Neuronen zu verschalten, die an der Hervorbringung dieser Laute im prämotorischen und parietalen Kortex beteiligt sind. Das Kind trainiert sein Gehirn also gezielt, um herauszufinden, welche motorischen Programme sich zur Erzeugung eines bestimmten Lautes eignen. Wenn das Kind später hört, wie ein Erwachsener diesen Laut hervorbringt, ist der Apparat vorhanden, der die entsprechenden motorischen Programme aktiviert und den Laut reproduziert. Außerdem besitzt das Kind jene Fähigkeit, die oben im Rahmen der motorischen Theorie der Sprachwahrnehmung im Sprachkapitel beschrieben wurde.
Bei Erwachsenen aktivieren nicht nur die Sprachlaute motorische Programme, sondern Neuronen im prämotorischen Kortex reagieren auch, wenn die Person sieht, wie jemand anders spricht. Solche visuellen Reaktionen sind faszinierend, weil sich Babys in der Regel nicht beim Lallen sehen. Wir haben es hier also mit opakem Handeln zu tun, wie die Entwicklungspsychologen sagen. Wie soll Hebb’sches Lernen stattfinden, wenn sich das Kind nicht beim Artikulieren der
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