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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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dürfte also noch kein Spiegelsystem für das Greifen besitzen und nicht wirklich verstehen, was andere Menschen tun, wenn sie greifen. Doch wie lässt sich herausfinden, ob ein sechs Monate altes Kind eine Handlung versteht, wenn es uns das noch nicht sagen kann?
    An der University of Washington in Seattle untersuchten die Entwicklungspsychologinnen Jessica Sommerville, Amanda Woodward und Amy Needham diese Frage mit einer einfachen, aber einfallsreichen Methode. 80 Sie verglichen, wie gut Babys mit und ohne Greiferfahrung den Vorgang des Greifens verstehen – und das, ohne das Kind irgendetwas zu fragen. Nennen wir die beiden Durchschnittsbabys – eins von jeder Gruppe – Alison und Anne. Klein Alison ist dreieinhalb Monate alt, also zu jung, um allein ein Spielzeug greifen zu können. Ihr Gehirn vermag die erforderliche Bewegungsfolge noch nicht richtig zu koordinieren. Alison sitzt auf dem Schoß der Mutter vor einer Puppenbühne. Eine Versuchsleiterin auf der Bühne hat einen Kletthandschuh. Auf der Bühne befinden sich zwei Spielzeuge: links ein Teddy und rechts ein Ball. Hinter der Bühne schaut ein verborgener Beobachter durch ein kleines Loch, um festzustellen, wohin Alison blickt. Zunächst streckt die Versuchsleiterin die handschuhbewehrte Hand nach dem Ball aus, der an dem Handschuh haften bleibt. Die Versuchsleiterin verharrt so wie erstarrt, solange Alison sie beobachtet – jedoch höchstens zwei Minuten lang. Das erste Mal betrachtet Alison das Ereignis dreißig Sekunden lang. Anschließend wiederholt die Versuchsleiterin diese Bewegung wieder und wieder, ohne sie im Geringsten zu verändern. Nach ungefähr zehn Wiederholungen scheint Alison das Interesse zu verlieren und folgt dem Geschehen nur noch zehn Sekunden lang. Diese Verringerung der Beobachtungszeit bezeichnen wir wissenschaftlich als Habituation und in der Alltagssprache als Langeweile. Anschließend vertauscht die Versuchsleiterin die beiden Spielzeuge. Wie zuvor streckt sie die Hand mal nach rechts aus – nur dass sich dort jetzt der Teddy befindet, ein neues Ziel – und mal nach links – ein neuer Weg zum altbekannten Objekt, dem Ball. Für Alison scheinen die beiden neuen Handlungen gleich interessant zu sein. Wieder betrachtet sie sie geschlagene dreißig Sekunden lang. Sie erkennt also, dass es sich um neue Reize handelt, die genauso viel Aufmerksamkeit verdienen wie die allererste Handlung, die sie gesehen hat. Der Umstand, dass sie das neue Ziel ebenso lange fixiert hat wie den neuen Weg der Hand, zeigt uns, dass es bei ihr – im Unterschied zum Spiegelsystem des Erwachsenen – noch keine speziellen Repräsentationen von Zielen gibt. Aber schließlich hat sie ja auch noch nie selbst nach einem Spielzeug gegriffen, daher erwarten wir auch nicht, dass sie Spiegelneuronen hat, die ihr ermöglichen, das Ziel zu verstehen, nach dem die Versuchsleiterin die Hand ausstreckt.
    Einen Tag später ist Anne an der Reihe. Sie ist genauso alt wie Alison und hat ebenfalls noch nie eine Greifbewegung gemacht, doch bevor sie beobachtet, wie die Versuchsleiterin greift, erhält sie Gelegenheit, sich mit den Spielzeugen zu beschäftigen. Sie sitzt auf dem Schoß der Mutter, und vor ihr auf einem Tisch liegen ein Ball und ein Teddy – kleinere Versionen der Objekte, die sie später auf der Puppenbühne sehen wird. Anne berührt die Spielzeuge vorsichtig, kann sie aber noch nicht richtig ergreifen. Nach drei Minuten mit den Spielzeugen zieht die Versuchsleiterin einen Kletthandschuh über Annes rechte Hand. Wenn Anne den Teddy damit berührt, bleibt er haften, und sie kann den Bär bewegen, als hätte sie ihn ergriffen. Nach einigen Sekunden löst die Versuchsleiterin das Spielzeug von dem Handschuh und legt es wieder auf den Tisch. Anne streckt die Hand nach dem Ball aus, und wieder bleibt der Ball an dem Handschuh haften. Dieses kleine Spiel setzt sich vier Minuten fort. Jetzt, da Anne erlebt hat, was für ein Gefühl es ist, ein Objekt zu ergreifen, könnte – wenn unser Hebb’sches Konzept richtig ist – der Anblick einer Person, die die Hand nach einem Objekt ausstreckt, mit der Handlung des Nehmens verknüpft werden.
    Anne wird vor die Puppenbühne gesetzt, und es folgen die gleichen Darbietungen, die auch Alison gesehen hat. Die Versuchsleiterin streckt die Hand zum ersten Mal nach dem Ball aus. Anders als Alison, die diese Handlung dreißig Sekunden lang beobachtet hat, schaut Anne dem Geschehen sechzig Sekunden lang zu. Die

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