Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
visuelle, auditive, somatosensorische und prämotorische Areale miteinander verbinden, weil es anhand dessen, was es sieht, hört und fühlt, Handlungen planen muss. Daher ist Empathie die unausweichliche Folge Hebbscher Plastizität in diesen Verbindungen.
Bislang ist diese Hebb’sche Erklärung sozialer Kognition nur eine Theorie. Um ihre Gültigkeit zu prüfen, müssen wir die synaptischen Veränderungen im Gehirn messen, während die Menschen ihre Fähigkeit entwickeln, das Handeln und Fühlen anderer mitzuempfinden. Doch schon heute wissen wir, dass sich Empathie prinzipiell in einfachen biologischen Begriffen erklären lässt. Empathie, gemeinsame Schaltkreise und Spiegelneuronen mögen im Grunde genommen erlernte Assoziationen sein, wenn auch Assoziationen mit wahrhaft erstaunlichem Potenzial.
KAPITEL NEUN Autismus und Missverständnisse
Wir alle nehmen unsere soziale Intuition als selbstverständlich hin. Wir gehen ins Kino und fühlen, was in den Protagonisten vor sich geht. Wir versetzen uns in die Menschen in unserer Umgebung, als wäre es die selbstverständlichste Fähigkeit der Welt. Doch bei einigen Menschen, beispielsweise denen, die unter Autismus leiden, ist diese Fähigkeit eingeschränkt. Sogar Leute ohne solche Störungen ziehen gelegentlich unzutreffende Schlussfolgerungen, wenn sie gemeinsame Schaltkreise verwenden. Angesichts solcher Irrtümer müssen wir uns fragen, welche Grenzen und Fallen gemeinsame Schaltkreise haben.
Der seltsame Fall – eine literarische Einführung in den Autismus
Mark Haddons Buch Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone gibt ausgezeichnete Einblicke in die sozialen Defizite des Autismus:
»Ich heiße Christopher John Francis Boone. Ich kenne alle Länder der Welt und ihre Hauptstädte und sämtliche Primzahlen bis 7057.
Vor acht Jahren, als ich Siobhan kennenlernte, zeigte sie mir dieses Bild,
und ich wusste, es bedeutete ›traurig‹; genauso fühlte ich mich, als ich den toten Hund fand.
Dann zeigte sie mir dieses Bild,
und ich wusste, es bedeutete »glücklich«; so fühle ich mich zum Beispiel, wenn ich etwas über die Apollo-Weltraum-Missionen lese oder wenn ich um 3 oder 4 Uhr morgens noch wach bin und die Straße auf und ab gehen und so tun kann, als sei ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt.
Dann malte sie noch ein paar andere Bilder,
aber ich konnte nicht sagen was sie bedeuteten.
Ich ließ Siobhan viele solcher Gesichter malen und daneben genau hinschreiben, was sie bedeuten. Den Zettel steckte ich in die Tasche und zog ihn jedes Mal heraus, wenn ich nicht verstand, was jemand sagte. Aber es war sehr schwierig zu entscheiden, welche Abbildung der jeweiligen Miene am meisten entsprach, weil die Mimik der Menschen ja sehr rasch wechselt.
Als ich Siobhan davon erzählte, nahm sie einen Stift und noch einen Zettel und sagte, die Leute fühlten sich dann wahrscheinlich sehr
und dann lachte sie. Ich zerriss den ersten Zettel und warf ihn weg. Siobhan entschuldigte sich. Und wenn ich jetzt mal jemanden nicht verstehe, dann frage ich ihn, was er meint, oder ich gehe einfach weg.« *
* Mark Haddon, S upergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone , München, Karl Blessing Verlag, 2003, S. 9 f.
Die fiktive Figur Christopher Boone hat das Asperger-Syndrom. Er mag es nicht, berührt zu werden oder neue Menschen kennenzulernen. Er kann nicht unverbindlich plaudern, aber er ist ein Mathegenie mit einem sehr logisch arbeitenden Gehirn und liebt Rätsel mit eindeutigen Lösungen.
Eigentlicher Autismus und Asperger-Syndrom bilden den Kern einer Familie von Entwicklungsstörungen – der sogenannten »Autismus-Spektrum-Störungen« –, von denen jeder hundertfünfzigste Mensch betroffen ist. XIV
Obwohl seit Jahrzehnten nach der biologischen Ursache des Autismus geforscht wird, stützt sich die Diagnose dieser Störungen immer noch ausschließlich auf Verhaltenskriterien: Irgendwann in den ersten drei Lebensjahren weicht die Entwicklung dieser Kinder von der ihrer normal entwickelten Altersgenossen ab. Beide Krankheitsbilder zeichnen sich durch eingeschränktes Interesse und repetitives Verhalten aus; hinzu kommen – in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse – Defizite der sozialen Interaktion. Außerdem findet beim eigentlichen Autismus der Spracherwerb verzögert statt. Das gemeinsame Auftreten dieser scheinbar verschiedenen Probleme bezeichnet man als Autismus-Syndrom oder -Triade.
Ferner leiden
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