Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
gemeinsame Schaltkreise bei Autismus beeinträchtigt?
Eine Zeit lang glaubte man, ein »kalter« Elternteil, die sogenannte »Kühlschrank-Mutter«, könnte bei Kindern Autismus hervorrufen. Heute wissen wir aus Zwillingsstudien, dass genetische Faktoren die Hauptursache für Autismus sind. Zwillingsstudien sind ein beliebtes Forschungsinstrument, weil eineiige Zwillinge die gleiche DNA haben, während bei zweieiigen Zwillingen wie bei normalen Geschwistern nur die halbe DNA gemeinsam ist. Wenn Autismus allein auf die Umwelt zurückzuführen wäre, müsste die Konkordanz – das heißt die Wahrscheinlichkeit, dass, wenn ein Zwilling Autismus hat, auch der andere darunter leidet – bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen weitgehend gleich sein. Falls die Ursache genetisch wäre, sollten eineiige Zwillinge eine weit höhere Konkordanz haben. Im Fall des Autismus ist die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen höher als 90 Prozent, bei zweieiigen Zwillingen dagegen niedriger als 10 Prozent. Dieser eklatante Unterschied lässt darauf schließen, dass es im Genom von Autisten eine Besonderheit gibt, die ihr Gehirn veranlasst, sich ungewöhnlich zu entwickeln, und sie daran hindert, die für uns anderen selbstverständliche soziale Intuition zu entwickeln.
Eine wachsende Zahl von Forschern, darunter auch mich, beschäftigt die Frage, ob eine Funktionsstörung der Spiegelneuronen und gemeinsamen Schaltkreise womöglich zur biologischen Ursache des Autismus beiträgt. 94–99 Zur Untersuchung dieser Möglichkeit gibt es zwei Ansätze. Erstens, wenn gemeinsame Schaltkreise beim Autismus beeinträchtigt wären, stünde zu erwarten, dass Betroffene in ihrer Fähigkeit, das Verhalten anderer – etwa deren zielgerichtete Tätigkeiten und Gesichtsausdrücke – nachzuahmen, ziemlich deutlich von der Norm abweichen würden. Zweitens wäre zu erwarten, dass sich in Experimenten, bei denen gemeinsame Schaltkreise durch f MRT oder andere bildgebende Verfahren gemessen würden, bei Teilnehmern mit Autismus im Vergleich zu nicht-autistischen Versuchspersonen eine verringerte Aktivität zeigte.
Autisten ahmen weniger nach
Nachahmung ist bei Kindern und Erwachsenen mit Autismus recht eingehend untersucht worden. Unter dem Strich ergeben alle diese Studien, dass Kinder mit Autismus weniger nachahmen. Wenn nicht-autistische Kinder sehen, dass ein Spielkamerad mit einem neuen Spielzeug auf bestimmte Weise umgeht – etwa indem er ein Spielzeug vorwärts- und rückwärtsschiebt und dabei das Motorgeräusch nachahmt –, neigen sie spontan zu einer Kopie des beobachteten Verhaltens. Bei Kindern mit Autismus ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Handlungsweise geringer.
Gleiches gilt für Gesichtsausdrücke. Die meisten von uns produzieren, wenn sie den Gesichtsausdruck eines anderen Menschen sehen, eine sogenannte kongruente Gesichtsmuskelreaktion: Sie runzeln die Stirn, wenn sie einen ärgerlichen Gesichtsausdruck sehen, und lächeln, wenn sie jemanden lächeln sehen. Inkongruente Reaktionen sind das Gegenteil. Bei nicht-autistischen Kindern treten kongruente Reaktionen in 70 Prozent der Fälle auf, bei autistischen Kindern sind es dagegen nur 35 Prozent.
Körperliche Handlungen und Gesichtsausdrücke anderer beeinflussen also Autisten in geringerem Maße als die meisten von uns. Bedenkt man, dass unser Verbundenheitsgefühl mit anderen Menschen wesentlich davon abhängt, wie intensiv diese unsere Handlungen und emotionalen Gesichtsausdrücke spiegeln, muss diese geringere Neigung das soziale Netzwerk von Autisten negativ beeinflussen.
Natürlich stellt sich die Frage, warum autistische Kinder weniger dazu neigen, körperliches Verhalten und Gesichtsausdrücke nachzuahmen. Zwei Antworten sind möglich: Entweder sind sie unfähig zur Nachahmung, oder sie verwenden ihre intakte Fähigkeit nicht so häufig. Alles in allem hat es den Anschein, als wäre ihre Nachahmungsfähigkeit relativ unbeeinträchtigt. Werden die Kinder beispielsweise ausdrücklich zur Nachahmung aufgefordert, zeigen sowohl die nicht-autistischen als auch die autistischen Kinder durchgehend kongruente Gesichtsausdrücke. 100
Genauso verhält es sich bei körperlichen Handlungen, wie die britische Kognitionswissenschaftlerin Antonia Hamilton und ihre Kollegen nachwiesen. Unter Verwendung einer Aufgabe, die mein Kollege, der holländische Psychologe Harold Bekkering, entwickelte, 101, 99 setzten sie Kinder mit und ohne Autismus einzeln an einen Tisch, vor dem sich ein
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