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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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kommt eine Dame, Schwester Gertrude, die will dich nach Siegburg holen.«
    »Was?«
    »Du hast ja zugesagt.«
    »Hab ich?«
    So schiebt sie Wolfgang die Verantwortung zu für ihre Entscheidung.
    Am nächsten Tag steht Schwester Gertrude vor der Tür. Sie ist oft mit solchen Aufträgen unterwegs. Hol- und Bringdienste. Aber Wolfgang kennt diese Frau nicht, er hat sie noch nie gesehen. Er erinnert sich zwar vage, damals zugestimmt zu haben, ja, er würde wohl mitkommen. Doch das war nur Höflichkeit. Er hat nicht damit gerechnet, dass er wirklich dorthin muss. Er will nicht. Den wahren Grund kann er nicht aussprechen. Sein Vater findet es auch keine so gute Idee. Aber die Mutter hat das Sagen. Und ihr hat Schäfer die Gedanken eingepflanzt, dass ihr braves Bürschlein Wolfgang ein schwer erziehbares Kind sei. Das wäre nirgends besser aufgehoben als in Schäfers Obhut. Dann würde sich schon alles zum Besten wenden. Ihr leuchtet das ein. Die Platzprobleme werden sich damit auch erledigen.
    »Aber, Mama, ich kenne die Frau doch gar nicht«, versucht Wolfgang seine Mutter umzustimmen.
    »Nun beeil dich schon«, erwidert sie, »hier ist dein Koffer. Das werden bestimmt schöne Sommerferien.«
    »Beeil dich, beeil dich, wir müssen los«, schnauzt auch Schwester Gertrude, und erschrocken merkt Wolfgang, dass sie mit ihm per Anhalter fahren will. Ein merkwürdiges Schamgefühl erfasst ihn: Sie besitzen einen eigenen Wagen, doch nun steht diese fremde Frau mit ihm an der Straße und hält den Daumen anderen Autos entgegen. Hoffentlich sieht ihn keiner. Aber da kommt schon sein Fußballtrainer, der immer um diese Zeit zum Trainertreffen nach Köln fährt. Wolfgang will sich hinter der Frau verstecken, doch der Trainer hat ihn schon entdeckt und hält an.
    »Wo soll es denn hingehen?«, fragt er.
    »Nach Heide bei Siegburg«, antwortet Schwester Gertrude. Wolfgang steht mit rotem Kopf daneben und schweigt.
    »Na, dann steigt man ein«, sagt der Trainer, »ich nehm euch mit.« Schnell klettert Wolfgang auf den Vordersitz, hier fühlt er sich etwas wohler als auf dem Rücksitz neben der groben fremden Frau, die einschläft, sobald sie sich zurückgelehnt hat.
    »Ist das eine Verwandte von dir?«, fragt der Trainer. Wolfgang distanziert sich sofort. »Nein, die kenn ich gar nicht, das ist eine Schwester.« Und dann reden sie über Fußball, bis sie in Heide angekommen sind.
    »Vergiss nicht das Spiel am Sonntag«, ruft der Trainer Wolfgang noch nach, als er die beiden abgesetzt hat.
    »Der spielt nie wieder Fußball«, ruft Schwester Gertrude zurück. Eine Erwiderung, die schaudern lässt, aber der Trainer hat sein Fenster schon wieder hochgekurbelt und ist abgefahren. Wolfgang wird den Satz nie vergessen. Dann gehen sie hinüber zur Baracke – das Jugendheim muss erst noch gebaut werden – und öffnen die Pforte.
    In diesen Sommerferien lernt Wolfgang Gräben auszuheben. Schmale Gräben, bis vier Meter tief müssen sie sein für eine Entwässerungsanlage. Das Gelände, auf dem gebaut wird, ist sumpfig. Feldsteine werden angeliefert, dann Kies und Sand, nacheinander muss alles in die Gräben geschüttet werden. Darauf kommt Erde, zum Schluss werden Sträucher gepflanzt.
    Das mit dem Fußballspielen kommt dann doch anders. Am 17. Oktober 1958, Wolfgangs zwölftem Geburtstag, kehrt er mit seiner Elf als Bezirkssieger der Knabenmannschaft aus Hannover zurück. 3 : 0 haben sie Hannover 96 geschlagen. Mit Wolfgang im Tor. Ein letztes Mal.

KAPITEL 4
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Auf der Flucht
1947-1957
    Nichts anderes ist nötig,
damit das Böse triumphieren kann,
als dass gute Menschen wegsehen.
    Edmund Burke
    Als Wolfgang Müller und Gudrun Wagner in Schäfers Fänge geraten, trainiert dieser schon seit einem Jahrzehnt, Kinder an sich zu binden, Menschen zu manipulieren und Familien zu spalten. Wie gelingt es Paul Schäfer, die Menschen so zu faszinieren, dass sie sich selbst verlieren? Warum drängen sich so viele danach, in seiner Nähe zu sein? Warum glauben sie an ihn?
    Nur wenige, die die Anfangsphase der Sekte miterlebten, können darüber noch Auskunft geben. Eine ist die 79-jährige Ida Gatz, geborene Ritz. Sie schildert, wie Schäfer seine Krallen feilt, die Grenzen austestet und auslotet, wie weit er mit den gläubigen Menschen gehen kann, ohne dass sie ihn durchschauen oder gar anzeigen. Wie er das Fundament legt für die spätere Foltersekte Colonia Dignidad in Chile und wie er die Führungsschicht sammelt, die er braucht, um sich sein

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