Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
getrunken
so manchen frischen Trunk
ich bin nicht alt geworden,
ich bin nicht alt geworden,
ich bin noch allzeit jung.
Was auf diesen nächtlichen Wanderungen sonst noch geschieht, ahnt die sechzehnjährige Ida Ritz nicht. Erst mehr als zehn Jahre später wird ihr jüngerer Bruder ihr die Augen öffnen über das, was Paul Schäfer mit den Jungen macht.
Dabei ist Schäfer eigentlich ganz offen. Man hätte ihn durchschauen können – im Nachhinein betrachtet. Doch als er 1949 zu Ida sagt: »Ich brauche einen Ort, wo mir niemand reinriecht«, kann sie die wahre Bedeutung seiner Worte nicht verstehen. Reinriecht , sagt er, nicht reinredet , wie der Ausdruck eigentlich lautet. Was ist das für ein Geruch, den niemand riechen soll?
Auch als er wenig später zu ihr sagt: »Was wollen die denn? Der Pastor Mütz 31 in Prezelle, der treibt es doch auch mit seiner Haushälterin!«, da kann sie diese Bemerkung des zwölf Jahre älteren Mannes nicht einordnen. Anlass von Schäfers Empörungist seine drohende Entlassung durch die Gemeinde. Schäfer zeigt seine Entrüstung darüber Ida gegenüber, ohne befürchten zu müssen, dass sie versteht, wovon er wirklich spricht. Er verstellt sich noch nicht einmal und gibt so Einblick in das, was er empfindet. Er sieht keinen Unterschied zwischen einem evangelischen Pfarrer, der eine sexuelle Beziehung zu seiner erwachsenen Haushälterin hat, und seinem eigenen kriminellen Verhalten, minderjährige Jungen sexuell zu nötigen und zu misshandeln. Ida behält diese Gesprächsfetzen im Gedächtnis. Und bewegt sie in ihrem Herzen. Immer verbunden mit dem Gefühl: Irgendetwas stimmt da nicht. Viele solcher Szenen bleiben ihr haften. Erst Jahrzehnte später kann sie sie zusammenfügen.
»So wahr die Kirchturmuhr schlägt, wirst du dich einmal bekehren«, verkündet Schäfer plötzlich, mit ausgebreiteten Armen, mitten auf der Brücke über die Seege, einen kleinen Nebenfluss der Elbe, als er Ida von einem Treffen nach Hause bringt in die Wohnung ihrer Mutter auf dem Gut des Grafen Bernsdorf. Es ist still, der Abend dämmert, ein Biber schwimmt dicht am Ufer des Flusses entlang, und dann beginnt die Kirchturmuhr von Idas vertrauter Gartower St.-Georgs-Kirche zu schlagen. Gutes Timing. Verwirrt zögert Ida, und zaghaft sagt sie dann das geforderte Wort: »Ja.« Aber wozu soll sie sich eigentlich bekehren? Sie weiß es nicht – sie ist evangelisch getauft und erzogen und will das auch bleiben.
Mein Reich komme
»Paul Schäfer hat das Bestreben, ein eigenes Reich zu haben, von Anfang an systematisch betrieben«, sagt sie heute.
Um sich dieses Reich zu verschaffen, fängt er ganz klein an. Er fertigt Postkarten, billige kleine Vordrucke, die er mit einer naiven Zeichnung versieht: fünf Schuljungen sind darauf zu sehen, sie stehen vor einem Haus mit der Aufschrift »Jugend zu Gott« undder Unterschrift »Baustein für das Jugendheim des Kirchenkreises Gartow«. Diese Karten müssen die Kinder und Jugendlichen aus Schäfers Jugendkreis nach dem Gottesdienst und anderen kirchlichen Veranstaltungen verkaufen. Artig sollen sie vorher den Pastor fragen, ob es denn recht sei. Ein Jugendheim für den Kirchenkreis? Was kann er schon dagegen haben? Groschen für Groschen liefern sie das erbettelte Geld bei Paul Schäfer ab. Sie tun es gern. Auf seinen Befehl ziehen sie sogar durch Kneipen, um Reinigungsmittel zu verkaufen. Dieser Versuch, zu Geld zu kommen, bleibt allerdings erfolglos.
Zu der Zeit, als die Kinder in Gartow Schäfers selbst gebastelte Postkarten vor der Kirchentür feilbieten müssen, wird die neunjährige Gudrun Wagner aus Graz zur Erholung in die Schweiz geschickt. Ihre Lunge ist schwach, bei jeder Schuluntersuchung muss sie zum Röntgen. Der Mann ihrer Lehrerin arrangiert den Aufenthalt bei einer anderen frommen Familie; sie gehören zur Heilsarmee. Gudruns Lunge erholt sich gut in der Schweizer Bergluft. Als die Gasteltern Gudrun bedrängen, sie solle sich zur Heilsarmee bekehren, weigert sie sich. Als der Gastvater nachts in ihre Kammer kommt und sich neben ihr selbst befriedigt, stellt sie sich schlafend und ist tief beschämt.
Währenddessen lebt der vierjährige Wolfgang mit seinen Eltern im Haus des Großvaters in Lutter. Auch Onkel und Tante wohnen dort, zusammen mit drei Kindern, in zwei Zimmern. Es ist beengt, aber Wolfgang hat die Spielgefährten gleich nebenan.
Andächtig und fasziniert lauschen die Kinder in Gartow Paul Schäfer. Sie glauben ihm, wenn er über das
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