Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
27 und Maria, eine Freundin, gehen zu Schäfer und verlangen: »Wir möchten da mitmachen, wir wollen auch was erleben.« Schäfer interessiert sich nicht für die Mädchen, aber abweisen kann er sie schlecht. Wer weiß, denkt er, vielleicht sind sie nützlich. So wird der große Jungenkreis um drei Mädchen erweitert.
Die gemeinsamen Radtouren und Theateraufführungen mit dem CVJM -Jugendwart Schäfer bringen frischen Wind in Idas Leben. Beim Wandern und am Lagerfeuer wird viel gesungen, »Hohe Nacht der klaren Sterne«, »Und in dem Schneegebirge«, »Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n«. Volks-, Marsch-, Kunstlieder, Christliches und Liedgut aus der Nazi-Zeit, Hauptsache schwungvoll.
Diese jugendbewegte männliche Wandergruppe, in die Ida und ihre Schwester da hineingeraten sind, macht auch den Mädchen Spaß. Was Ida als männliche Euphorie empfindet, ist eine Form erotischer oder sexueller Erregung, die sich zwischen Paul Schäfer und den Jungen ausbreitet. Pheromone, chemische Botenstoffe, werden auch von weiblichen Personen empfangen. Selbst wenn der Sender nur männliche Empfänger meint, die Biologie hat anders geplant. 28
Manche Eltern in Gartow sind beunruhigt über die Schwärmerei ihrer Söhne für Paul Schäfer. Mit deren Klagen beschäftigt sich 1951 der Sport- und Jugendausschuss von Gartow. Schäfer wird wegen sexuellen Missbrauchs entlassen. Trotzdem kleben die Kinder geradezu an ihm; wenn die Eltern sie einschließen, dann klettern sie aus dem Fenster, um nachts mit Paul durch die Wälder ziehen zu können, und verschließen sich vor ihren Eltern. Die Eltern klagen, dass ihre Kinder vor Müdigkeit im Schulunterricht einschlafen, während der arbeitslose Herr Schäfer ohne Weiteres bis spät in den Tag hinein schlafen könne. Sie spekulieren über »suggestive Gewalt«, »sektische Beichtstunden« und »hypnotische Einflüsse« durch den Ex- CVJM -Jugendwart. 29 Aber sie zeigen ihn nicht an.
Die Jungs wirken alle high, so als wären sie auf einem Trip. 30 Und das sind sie wohl auch. Für manche wird es ein Höllentrip. Wer nach einem kalten Entzug wieder klar sehen kann, hat Glück gehabt.
Zu diesem Zeitpunkt ist der kleine rothaarige Wolfgang Müller in Lutter erst vier Jahre alt, und die neunjährige Gudrun Wagner in Graz lernt Mandoline spielen. Vor den Bomben auf Stuttgart war Familie Wagner 1945 nach Österreich geflüchtet und zunächst bei Minas Familie in Kärnten untergeschlüpft, dann vom englischen in den russischen Sektor ins Burgenland zu Wilhelms Familie gezogen. Die unruhige Zeit geht zu Ende, als sie eine Wohnung in Graz finden. Nun erfüllt Wilhelm Wagner sein Gelübde, eine Pfingstgemeinde zu gründen. Die Gottesdienste hält er selbst, abends nach seiner Arbeit als Gärtner. Versammlungsraum ist die Küche, ein langer, schmaler Raum, in dem sich alles abspielt; es wird gekocht, gegessen, die Kinder – inzwischen sind es fünf – spielen hier, und der Vater liest aus der Bibel vor. Der Großvater ist dabei, Freunde kommen hinzu, es werden immer mehr, sie mieten einen Saal, evangelisieren. Dann bekommen sie einen Prediger, der bei Wagners wohnt, und jetzt baut Vater Wagner nach der Arbeit ein Haus für die Familie. Alle helfen mit, ein Freund bringt eine Betonmischmaschine, Mina mischt Beton, der Großvater packt mit an, obwohl ihm eine Hand fehlt. 1949 ist das Haus fertig, und sie ziehen ein. Abends liest der Vater vor, sie singen, spielen mit dem Puppenhaus, machen Handarbeit. Eine wundervolle Kindheit.
Bis Paul Schäfer kommt.
Noch sechzig Jahre später finden sich im Fotoalbum der 79-jährigen Ida Gatz, geborene Ritz, Bilder aus jener Zeit – winzige Schwarz-Weiß-Fotos mit Menschen aus einem anderen Jahrhundert. Eines davon stammt aus dieser Anfangszeit in Gartow, 20.5.1950 steht auf der Rückseite. Vorn im Bild drei junge Mädchen – Ida, ihre Schwester Gertrud und ihre Freundin Maria.Hinter ihnen aufgereiht achtzehn Jungen zwischen zehn und etwa sechzehn Jahren, der Jugendkreis, zu dem sich die Mädchen den Zugang erkämpft haben. Und ganz am rechten Rand Paul Schäfer, mit hochgekrempelten Ärmeln, in kurzer Hose und weißen Söckchen, 29 Jahre ist er inzwischen alt.
Und in dem Schneegebirge,
da fließt ein Brünnlein kalt,
und wer das Brünnlein trinket,
und wer das Brünnlein trinket,
bleibt jung und wird nicht alt.
Auch nächtliche Waldwanderungen gibt es, mit Lagerfeuer. Aber die sind den Jungen vorbehalten. Ausschließlich.
Ich hab daraus
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