Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
darin die Erklärung für jene zwei Jahre, die in seiner Biografie nicht belegt sind? Viele Behauptungen gibt es zu Schäfers Lebenslauf, viele Gerüchte und viele Mythen, die er selbst in Umlauf gebracht oder die andere um ihn gerankt haben.
Willi Georg, seinem früherem Schulkameraden, erzählt Schäfer 1950, er hätte wegen Diebstahls zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Das könnte die Bekanntschaft mit dem Gefängnisdirektor erklären. Willi Georg glaubt Schäfer – Diebstahl in Notzeiten ist ein Kavaliersdelikt und nichts, weshalb er ihn ausgrenzen würde. Wäre Schäfer im »Dritten Reich« allerdings wegen Homosexualität ins Gefängnis gekommen, dann hätte das auch den Abtransport in ein KZ mit Folter und Tod bedeuten können. Bisher konnte das nicht geklärt werden. Aber große Angst vor der realen Gefahr wird Schäfer sicher verspürt haben, und das könnte seine späteren Tendenzen zum Verfolgungswahn erklären.
Seit 1952 gehört Willi Georg zum inneren Kreis. Voller Details sind die Erinnerungen, die er in langen Briefen festhält. Ausführlich schildert er die Bibelstunden. Nebenbei beobachtet er, wie grob Schäfer seine eigene Mutter, Anna Schmitz, behandelt, in deren Wohnung in der Troisdorfer Wilhelmstraße man sich damals trifft. Auch Konflikte um Geld erlebt er mit; Anna Schmitz erwartet, dass Paul Schäfer zur Aufbesserung ihrer kleinen Rente beiträgt. Um Sündenbekenntnis, Beten, Bekehrung, Zukunftsplanung kreist das Gespräch der Gruppe am Anfang. Willi Georg beschreibt auch den Aufbau eines Blasorchesters – Posaunen werden gekauft, ein Musiklehrer engagiert –, genauso wie die Zerstörung der Familien – Frauen werden angewiesen, ihre Männer zu Gewalttätigkeit zu provozieren, um einen Scheidungsgrund zu haben. Er wird sehr deutlich: »Ihr müsst eure Männer in die Hoden treten«, sagt er. Den Männern befiehlt er, ihre Frauen entmündigen zu lassen, wenn sie nicht bereit sind, ihre Söhne der Heimerziehung zu überlassen, das heißt, sie Paul Schäfer zu überantworten. Einige Frauen werden tatsächlich in die Psychiatrie eingeliefert; auch die Frau von Willi Georg ist darunter. Eine Mutter in Gronau zerbricht an der Ausweglosigkeit, die Schäfer inszeniert hat. Sie legt sich vor den Gasherd und bringt sich um. Ihre Kinder nimmt sie mit.
Hin und wieder kommt Danilo zu Besuch, der »stärkste Mann der Welt«, mit dem Schäfer als Gehilfe von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen war. Der schwule Danilo begeistert die Jungen mit seiner Körperkraft. Wolfgang schwärmt: »Weltmeister im Expanderziehenist er, sieben Stück!« Einen Amboss stellt er sich auf die Brust und lässt die Jungen draufhauen. An Schäfers Geburtstag werden sie zusammen mit Schäfer zu Danilo eingeladen, der wohnt auch in Siegburg, hat Katzen und Hunde. Den Jungen führt er allerlei Zirkustricks vor. Und an ihnen vergnügen darf er sich auch.
Von diesem Leben der Jungen haben die Mädchen keine Ahnung. Ihre Lebenswelten sind voneinander getrennt, und Begegnungen werden seltener.
Abschied mit hoch erhobenem Haupt
Währenddessen sitzt Johannes Bechtloff ohne seine Frau in Graz und betreut dort die Restgemeinde. Von den Ereignissen in Siegburg weiß er wenig, aus Gronau und Brilon hört er nichts. Mina Wagner ist auch noch in Graz – ohne Mann und ohne die meisten ihrer Kinder. Abends liest Johannes der kleinen Gemeinde aus der Bibel vor, spricht seine Gedanken dazu, tagsüber verdient er Geld mit Malerarbeiten. Dann beginnt er zu fasten. Schäfers Allheilmittel. Er fastet sechzehn Tage lang, trinkt nur Wasser. »Dabei hat man eine spezielle Antenne zur geistigen Welt, zu Gott, und alles Irdische ist weit weg«, versucht er seine Verfassung zu erklären. In dieser Zeit geht ihm auf, dass etwas mit der Schäfer-Gruppe ganz und gar nicht stimmt. So weit weg ist die Realität also doch nicht. Tante Resi, auf die Schäfer »irgendwie hört«, setzt durch, dass Frau Bechtloff ihren Mann in Graz besuchen darf. Nun können sie sich erzählen, wie unglücklich sie mit dieser künstlichen Trennung sind. Sie beschließen: Wir müssen da weg.
»Aber dieses Geheimnis können wir niemandem sagen«, beschwört Johannes Bechtloff seine Frau eindringlich. Er weiß nicht, dass es diese Worte sind, mit denen Schäfer die Kinder einschüchtert.
Warum eigentlich nicht?, denkt Christel Bechtloff, als sie wieder nach Heide fährt. Bei ihrer Rückkehr sagt sie es der Gruppe sofort: »Ich will hier nicht mehr bleiben.«
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