Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
bestürmt man sie: Warum nicht? Was ist denn in dich gefahren? Wo willst du überhaupt hin?
»Das sage ich nicht«, ist ihre Antwort.
Diese Verweigerung kommt gar nicht gut an. Christel wird »beackert«, man lässt sie nicht mehr allein, man lässt sie keine Minute in Ruhe. Eine Gruppe Frauen wird ihr ständiger Begleiter, geht mit ihr spazieren, pflückt mit ihr Blumen, macht mit ihr Küchenarbeit, steht um sie herum, bedrängt sie. Und immer wieder fordernde Fragen: »Wohin willst du denn, rück endlich raus damit. Du musst es uns sagen.«
»Weg von hier, das hier kann ich nicht mehr.«
Der Chor der Erinnyen erstattet Schäfer Bericht: »Es ist nichts rauszukriegen aus ihr.«
Nachdem die niederen Chargen nichts erreichen konnten, erscheint Schäfer selbst und richtet freundlich das Wort an die Widerspenstige: »Ich habe gehört, dass du wegwillst. Hier kann jeder kommen und gehen, wann er will und wie er will. Wir halten niemanden.«
Allerdings – und nun kommt der Pferdefuß – gebe es eine Einschränkung. »Wir haben deinem Mann gegenüber eine Verantwortung. Der ist nicht hier. Wenn er wiederkommt und uns fragt, was habt ihr denn mit meiner Frau gemacht? Die ist ja gar nicht hier. Warum ist die weg?«
Schäfer bleibt ruhig und sehr freundlich, er spricht ganz gelassen mit ihr. Der gönnerhaft bevormundende Ton den Frauen gegenüber ist noch üblich und löst selten Verwunderung aus.
Daher, so Schäfer weiter, müsse sie etwas hinterlassen, das sie ihrem Mann geben können, damit der gleich Bescheid wisse, was geschehen sei. Und legt ihr flugs ein Schriftstück vor.
Sie soll unterschreiben, dass sie sich von Gott, von der Gruppe und von ihrem Mann lossage und nichts mehr mit ihnen zu tun haben wolle.
Doch Christel Bechtloff lässt sich nicht beirren.
»Mit Gott will ich noch zu tun haben und mit meinem Mann auch«, sagt sie, »nur mit euch nicht mehr.«
Der Rest ist Schweigen.
Die Gruppe ist so perplex, dass ihr nichts mehr einfällt.
Glücklicherweise haben die Bechtloffs ihre Hamburger Wohnung nicht aufgegeben. Glücklicherweise ist es eine Mietwohnung, und auch sonst besitzen sie wenig, können also auch wenig Besitz an Schäfer verlieren.
Christel Bechtloff erwartet inzwischen ihr viertes Kind. Erstaunlicherweise. »Da können Sie jetzt fragen, wie ist denn das zustande gekommen?«, scherzt der 82-jährige Johannes Bechtloff denn auch überraschend jugendlich viele Jahre später beim Interview. Die Erklärung: Ab und zu durfte das Ehepaar seine Kinder in Gronau besuchen. Bei den verständnisvollen Pflegeeltern.
Als Christel Bechtloff aus Graz zurückkommt, steht die Geburt kurz bevor. Beiden ist klar: Dieses Kind wird in Hamburg zur Welt kommen, nicht in Heide.
Mit hörbarem Stolz schildert der alte Johannes Bechtloff die Zivilcourage seiner Frau: »Die wollten damals mit Macht, dass sie in Siegburg entbindet. Aber da war sie tapfer, meine Frau.«
»Ich entbinde in Hamburg«, sagt Christel Bechtloff in Siegburg zu der Gruppe und setzt es durch. Sie packt ihre Tasche, und bei nächster Gelegenheit, als jemand von ihnen mit dem Auto nach Hamburg fährt, fährt sie mit.
Jetzt ist sie in Sicherheit, er aber ist erst in Graz, dann zurück in Siegburg, und die Kinder sind noch in Gronau. Ein Ausstieg mit hoch erhobenem Haupt, wie seine Frau ihn hinlegt, gelingt Johannes nicht. Es ist eher eine Flucht. Er findet sich feige, aber er kann nicht anders.
Dass er überhaupt in eine solche Haltung von Angst und Unterwürfigkeit hineinkommen kann, beschämt ihn tief. Er will unbedingt weg, aber es vorher zu sagen, denkt er, ist Wahnsinn. Er traut sich nicht zu, das durchzustehen. Er hat diese Szenen zu oft bei anderen miterlebt.
Wenn jemand etwas aussprechen muss, »den Teufel blamieren«, stürzt sofort eine Meute auf ihn los und beschimpft ihn. Viele Hunde sind des Hasen Tod, hat Johannes dann oft gedacht.Sie schlagen mit Worten, erniedrigen psychisch: »Du bist verführt vom Teufel«, rufen sie, »dass du so teuflische Gedanken hast. Dass du dich einfach lossagst von solchen Menschen, wo du so geliebt wirst. Du bist Satansbrut. Du lügst. Du stinkst.«
Aber sie schlagen nicht nur mit Worten. Das ist einer der Gründe, warum Johannes es nicht mehr aushält.
Geprügelt bis zur Bewusstlosigkeit
Wer die Gruppe verlassen will oder Gedanken hegt, die sich gegen Schäfer richten, wird geprügelt bis zur Besinnungslosigkeit. Das kommt häufig vor. Johannes Bechtloff arbeitet als Hauslehrer und
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