Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
das Feld geräumt hast", sagt sie.
"Ich weiß, das kam plötzlich. Aber diese Entscheidung war damals einfach die beste für mich. Nathalie war gerade mal drei Jahre alt und nahm mich rund um die Uhr in Anspruch. Dann noch der Laden. Da blieb eben nicht mehr viel Zeit für eine Selbsthilfegruppe."
Sie nimmt den Deckel von einer Keksdose und reicht sie mir herüber. Ich schüttele den Kopf. Ich kann jetzt nichts essen.
"Der Sinn einer Selbsthilfegruppe liegt nicht darin, dass du Zeit dafür findest", sagt sie. "Sondern darin, dass du dir die Zeit dafür nimmst. Um dich an das Schöne im Leben zu erinnern, eben aus der Erkenntnis heraus, dass du nicht alleine bist."
"Nathalie war drei", sage ich erneut, als hätte sie diese Bemerkung überhört.
"Es geht nicht darum, dass wir dich vermisst haben, Dascha. Es geht darum, dass es gut für dich war. Für uns alle. Und ein Schicksal wie deines verarbeitet sich nicht innerhalb weniger Sitzungen."
"Vielleicht habe ich es nur auf eine andere Art verarbeitet."
Sie legt ihre Hand auf meine. Der Blick hinter meine Fassade fällt ihr selbst nach zwölf Jahren nicht schwer. Sie weiß, was ich denke. Es scheint, als läge nicht ein einziger Tag zwischen unserem letzten Treffen und diesem.
"Wenn du es verarbeitet hättest, wärst du nicht hier, oder?" Ihre Stimme ist leise, beinahe ein Flüstern.
"Ich wollte dich einfach wieder sehen, Elina", sage ich. "Ich habe mich gefragt, wie es dir geht. Was deine Hundezucht macht. Und überhaupt."
"Den Hunden geht’s prima", antwortet sie, sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass ich nicht eine Sekunde an die Hunde gedacht habe.
"Ich weiß nicht weiter, Elina", antworte ich, ohne dass sie die Frage ausgesprochen hat. Ja, das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich muss reden. Mit jemandem, der mich versteht. Mit jemandem, der mich nicht verurteilt. Mit jemandem, der mir nicht sagt, dass ich mich beruhigen soll.
"Du hast lange Zeit nicht darüber gesprochen, oder?"
"Mit Armin. Manchmal. Aber wir haben uns die meisten Worte zu dem Thema abgewöhnt."
"Das war schon damals dein Problem. Du hast in den Sitzungen meist nur die anderen reden lassen. Zugehört. Aber von dir selbst viel zu wenig erzählt. Ich glaube, dass das einer der Gründe war, warum es dir so schwer gefallen ist, die Vergangenheit zu verarbeiten. Du hast zu viel verdrängt. Zu viel geschwiegen."
"Aber heute bin ich hier, um zu reden."
"Die Selbsthilfegruppe existiert in ihrer alten Form nicht mehr", antwortet sie.
"Ich wollte auch eher mit dir alleine reden. Die anderen haben mich nie so verstanden wie du."
Sie streicht mit den Finger über meinen Arm. Eine vertraute Geste, die mich an die ersten Jahre nach Fionas Tod erinnert und die typisch für Elina war, wann immer sie mit anderen Teilnehmern der Gruppe sprach. Nicht selten vergaß man dabei, dass sie selbst eine Betroffene war. Eine Trauernde. Ihre Ausstrahlung, die innere Ruhe, gaben ihr schon damals eine Reife, die ich bis heute nicht erreicht habe. Trotz der Tatsache, dass sie um einiges jünger ist, war sie mir schon damals weit voraus. Und vermutlich ist sie es bis heute.
"Was ist los?", fragt sie mich.
"Es geht um Nathalie. Ich mache mir in letzter Zeit viele Gedanken über sie."
"Es ist nur natürlich, dass du dir Sorgen um sie machst. Es ist in etwa dasselbe Alter, oder?"
"Exakt dasselbe", sage ich. "Fünfzehn."
Sie nickt.
"Aber das allein ist es nicht. Sie hat angefangen, Fragen zu stellen."
"Auch das ist sicher nicht ungewöhnlich."
"Ja, ich weiß. Und Fragen gestellt hat sie schon immer. Aber diese eine, alles entscheidende Frage kam erst jetzt und hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen." Ich hole tief Luft. "Sie wollte wissen, ob sie geboren wäre, wenn…"
"Was hast du gesagt?"
"Die Wahrheit."
"Und wie hat sie reagiert?"
"Es war schwierig. Und sicher lag es auch an mir. Es kam zum Streit. Seitdem ist die Luft zwischen uns dicker, alles irgendwie angespannt. Und das macht mir schwer zu schaffen."
Sie drückt meine Hand. Für eine Weile schweigt sie. Dann ein beinahe ermutigendes Lächeln.
"Vielleicht war das das Beste, was dir passieren konnte. Das Beste, was euch passieren konnte."
"Wie meinst du das?" Es fällt mir schwer, der Situation etwas Positives abzugewinnen.
"Dass es euch helfen kann, über die Dinge zu reden", antwortet sie. "Auszusprechen, was bisher verborgen geblieben ist. Nicht nur Nathalie gegenüber, sondern auch euch selbst. Es ist nie zu spät, die richtige
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