Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
Bahn einzuschlagen."
"Die richtige Bahn", murmele ich.
"Ja. Denn alles andere war und wäre falsch."
"Ich kann mit Nathalie nicht reden wie ich mit Armin rede. Ich kann ihr nicht von den Details erzählen. Diese grausamen Dinge gehören in eine Zeit, die weit hinter uns liegt."
"So lange es eure Vergangenheit ist, wird sie niemals hinter euch liegen. Sie ist ein Teil von euch. Und das musst du endlich akzeptieren, Dascha."
Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob es tatsächlich zwölf Jahre sind, die dieses Gespräch von unserem letzten trennen. Wie gestern liegen mir Elinas Worte in den Ohren, dass ich mich den Dingen stellen muss, darüber reden muss, sie verarbeiten muss. Doch mit jedem Wort, das ich darüber verliere, rückt der Schmerz näher.
"Aber ich will sie doch nur beschützen. Vor den Dingen, die wir durchgemacht haben. Vor den schrecklichen Bildern."
"Ich weiß. Und das ist auch verständlich. Aber du kannst sie nicht völlig abschotten. Sie gehört zur Familie. Finde einen Mittelweg. Gib ihr das Gefühl, dass sie dazugehört. Auch zu der Zeit, als es sie noch nicht gab."
Ich schweige.
"Egal wie schwer es ist. Letztendlich ist es für euch alle wichtig, der Vergangenheit ihre Macht zu nehmen. Und das gelingt euch nicht, indem ihr die Dinge unausgesprochen lasst."
Ich erwidere ihren Blick. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag länger als für ein paar Sekunden. Ich habe mich nie gefragt, woher sie all diese Dinge weiß. Woher sie die Sicherheit nimmt, ihren Weg so bewusst zu gehen. Trotz der Dinge, die sie durchlebt hat.
"Ist es wirklich so einfach, Elina?", frage ich. "Reden und damit hat es sich?"
"Es wird schwerer. Sehr viel schwerer. Ich habe viel Zeit bei meiner Schwester verbracht, in den ersten Jahren nach dem Unfall sogar bei ihr gewohnt. Die Gespräche haben wehgetan. Sehr weh." Sie senkt den Blick. "Aber letztendlich haben sie mehr geholfen als alles andere."
"Und deine Hundezucht."
Wie aufs Kommando dringt ein Bellen von draußen durchs Fenster.
"Die Hundezucht. Ja. Sie war mein Neubeginn. Der neue Weg. Aber du kannst erst einen neuen Weg einschlagen, wenn du die Kreuzung erreicht hast, Dascha."
Ihre Worte verwirren mich. Fast haben sie etwas Mystisches an sich. War das einer meiner Gründe, damals auf Abstand zu gehen? Die ständige Analyse meiner Gedanken, meiner Fehler, meiner Schwächen? Und was war es dann, das mich nach all der Zeit wieder hergebracht hat, wenn nicht die Einsicht, dass sie in irgendeiner Weise Recht hatte? Damals. Und ganz gewiss auch heute.
"Alles, was ich will, ist meine Tochter. Sie in den Arm nehmen zu können, ohne dass sie auf Abstand geht. Ihr uneingeschränktes Vertrauen genießen. So wie noch vor wenigen Wochen."
Elina nimmt ihre Tasse in die Hand. Ein langer Schluck, als bräuchte sie Zeit, um sich eine Antwort zu überlegen. Dann stellt sie sie wieder ab. Ihr Blick ist nichts sagend und ausdrucksvoll zugleich.
"Kann sie es denn?", fragt sie.
"Was?"
"Dir vertrauen."
Kapitel 6 : Nathalie
"Du gibst wohl niemals auf, was?"
Eine ganze Stunde hat sie vor der Halle gewartet, um eine Antwort zu bekommen, die sich scheinbar nahtlos an das letzte Gespräch anknüpft.
Er trägt eine Tasche in der Hand, über der Schulter seine Gitarre, während er zu einem schwarzen Lieferwagen geht.
"Ich will einfach nur reden", sagt sie, sehr viel mutiger als noch beim ersten Mal. Die letzten Skrupel, einen Fremden auszufragen, sind verflogen.
"Vielleicht möchte ich aber nicht reden."
"Nur fünf Minuten."
Er schiebt die Seitentür des Lieferwagens auf und legt die Gitarre mit der Tasche auf den Rücksitz.
Ein Bandkollege geht an ihnen vorbei.
"Süß, die Kleine." Er pufft Theo grinsend in die Hüfte. "Aber ein bisschen jung für dich, oder?"
"Halt die Klappe, Eddie!"
Die Art, wie er ihn für diese dämliche Bemerkung zurechtweist, ist ihr fast sympathisch.
" Also, was ist nun?", fragt sie.
Diesmal wird sie sich nicht so leicht abwimmeln lassen. Die Lüge über das angebliche Treffen des Schulwebsitekurses, die sie ihren Eltern aufgetischt hat, wird als Ausrede höchstens noch eine halbe Stunde standhalten . Dann wird sie sich auf den Heimweg machen müssen.
"Ich verstehe nicht, warum du dich da immer noch so reinhängst. Das ist doch alles schon so lange her."
Er bleibt neben dem Lieferwagen stehen.
Sie ist sich sicher, dass es richtig ist, hier zu sein. Dass es richtig ist, mit ihm zu reden. Und irgendwie wird sie ihn schon dazu
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