Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
fühlen?"
"Es kann nicht sein, dass du dich für in paar Informationen mit einem Fremden einlässt, Nathalie. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich das ist? "
"Du hast meine Frage nicht beantwortet, Mama."
"Was für eine Frage?"
"Na über Fiona." Sie schaut mich erwartungsvoll an. Für ein paar Sekunden ist nichts zu hören. Nur das Surren des Ofens. Einen kurzen Moment lang möchte ich in das alte Muster zurückfallen. Das Thema wechseln, um das Aufwühlen neuer Emotionen zu verhindern. Ich zögere. War es nicht genau dieses Ausweichen, das Nathalie erst zur Suche nach Theo verleitet hat? Die Tatsache, dass sie mehr erfahren wollte und Armin und ich ihr diese Möglichkeit die ganze Zeit über verwehrten? Ganz gleich, wie die Beweggründe für unser Schweigen letztendlich aussahen.
"Du willst wissen, ob Fiona wie du war?" Ich sammele mich. Eine Antwort auf ihre Frage scheint plötzlich einfacher und selbstverständlicher als zuvor . "Natürlich seid ihr euch ähnlich. So wie alle Teenager. Sie hatte nur andere Prioritäten als du."
"Andere Prioritäten?" Ihre Frage scheint unser Gespräch auf eine neue Ebene zu bringen. Sie setzt sich auf einen der Stühle. Ich setze mich ebenfalls wieder. Der Ausdruck in ihren Augen sagt mehr als alle Gespräche der letzten Tage. Eine Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, endlich das zu erfahren, wonach sie sucht. Sie lächelt. Ein Lächeln, das zu erwidern mir schwer fällt. Zu mächtig sind die Gedanken an Theo. Die Vorstellung, dass sie allein mit ihm war.
Elinas Worte werden wach. Das ist eure Chance, endlich miteinander zu reden. Nehmt der Vergangenheit die Macht. Ich versuche die Gedanken an Theo auszublenden und mich auf Nathalies Frage zu besinnen. Sie ist hier. In Sicherheit. Kein Theo. Keine fremde Umgebung. Nur wir beide.
"Fiona hatte keine gute Meinung zur Schule", sage ich schließlich. "Alles war wichtiger als zu lernen oder Hausaufgaben zu machen. Darin unterscheidet ihr euch eindeutig."
Nathalie grinst.
"Aber sie hatte denselben Dickkopf wie du. Dasselbe sture Nachbohren, wenn sie etwas wissen wollte. Und dieselbe Meinung über ihre Altersgenossen. Mit den meisten konnte sie nicht allzu viel anfangen. Ich nehme an, dass das viel mit ihrer Kreativität zu tun hatte."
"Kreativität? Sie hat gesungen, oder? In ihrem Tagebuch stand viel über eine Band."
"Das auch. Vor allem hat sie viel gemalt. Bei dir ist es heute das Layout am PC, während es bei ihr eher Aquarelle oder der Bleistift waren."
Ihr Blick ist offen, wissbegierig, als könnte sie auf diese Weise noch mehr Informationen aufsaugen. Ich wundere mich über meine Fähigkeit zu reden. Zum ersten Mal seit langem. Gleicht ihre Freude über das Wissen meine Angst aus?
"Sie hat gemalt?", fragt Nathalie.
"Ja. Sehr viel", sage ich. "In jeder freien Minute. Aber sie hat angefangen, es zu vernachlässigen, als das mit der Band losging."
"Hast du noch Bilder von ihr?"
"Jedes einzelne." Meine Gedanken wandern zur Mappe in der Kommode auf dem Dachboden. Dieselbe Kommode, in der Nathalie das Tagebuch gefunden haben muss. Seit Jahren habe ich keinen Blick mehr hineingeworfen. Warum hat Nathalie die Mappe nicht ebenfalls entdeckt? Hat sie die Suche mit dem Finden des Tagebuchs beendet?
"Ich würde gerne was von ihr sehen." Ihre Augen leuchten.
"Vielleicht heute Abend", antworte ich. Und ich meine es. Die Angst um die Gespräche mit Theo verblassen allmählich. Wir reden. Wir reden wirklich. Selbst Nathalies Zweifel an ihrem Stellenwert in unserem Leben scheinen vergessen. Das Gespräch über die Gründe für ihre Geburt und den darauf gefolgten Streit rücken mit jedem Wort weiter in den Hintergrund.
Im Flur höre ich die Tür ins Schloss fallen. Beinahe bedauere ich die Unterbrechung unserer Zweisamkeit. Nur Nathalie und ich. Ich versuche, mich an das letzte Gespräch dieser Art zu erinnern. Kann es sein, dass es das erste zu diesem Thema ist? Das erste von Angesicht zu Angesicht? Ein Gefühl von Vertrauen durchfährt mich.
"Hallo. Jemand zu Hause?" Armins obligatorische Begrüßung.
"Alle, die da sein könnten", antwortet Nathalie fröhlich.
Er betritt die Küche, scheinbar überrascht. Sicher verwundert darüber, uns beide in vertrautem Gespräch anzutreffen.
"Frauengespräche?", fragt er.
"So ähnlich", antworte ich.
"Wir reden über Fiona", sagt Nathalie, beinahe stolz.
Sein Blick sucht meinen. "Über Fiona?"
Ich nicke.
Über Fiona.
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2. September
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