Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
wie ein Kleinkind behandeln kann. Und sie hätte mir nie all die Sachen über Fiona erzählt."
Sie sitzen nebeneinander auf dem niedrigen Ende der Mauer neben dem Schulhof. Zwischen ihnen eine Flasche Cola, die sie sich abwechselnd rüberreichen.
Jenny scheint mit ihrer schmächtigen Erscheinung und dem hellblonden Haar optisch das genaue Gegenteil von Nathalie, die dunkelhaarig und fast einen ganzen Kopf größer ist. Trotzdem wirken sie in ihren Gesten wie das Abbild des jeweils anderen, während die Rückseiten ihrer Schuhe baumelnd gegen die Mauer schlagen.
"Und die Sache mit eurem Streit? Die Ohrfeige?", fragt Jenny. "Spielen die jetzt keine Rolle mehr?"
"Na ja, irgendwie schon."
"Du hast gesagt, dass du eine Art Pillenersatz warst, weil die Drogen oder die Therapie deiner Mutter nicht gewirkt haben. Das war schon krass. Ich meine, deine Mutter ist doch im Grunde ganz okay, oder? Bisschen vertätscheln tut sie dich vielleicht, aber sonst..."
"Fang nicht schon wieder damit an, Jenny. Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich übertrieben habe. Ich war eben wütend. Und irgendwie bin ich es auch immer noch."
"Ich find's ja cool, wenn du dich wieder beruhigt hast. Wundere mich nur eben."
"Ich war halt verletzt", sagt Nathalie. "Wie hättest du dich gefühlt, wenn du erfährst, dass es dich nur gibt, weil deine Eltern nicht damit klargekommen sind, dass ihr erstes Kind gestorben ist?"
Jenny greift nach der Colaflasche, um sie dann doch nicht anzusetzen. "Klar ist das ne ziemlich große Sache. Kann ich schon verstehen. Aber wenn bei irgendeiner Mutter deutlich wird, wie sehr sie auf ihre Tochter aufpasst, dann bei deiner, oder? Ich meine, sie ist da doch echt extrem. Wenn ich nur dran denke, wie oft sie manchmal anruft, wenn du nur zwei Stunden bei mir bist. Und warum sollte sie so auf dich aufpassen, wenn sie dich weniger liebt als ihre erste Tochter?"
"Ich hab ja auch nicht gesagt, dass sie mich weniger liebt. Oder dass Papa mich weniger liebt", sagt Nathalie. "Es geht nur darum, dass ich kein Wunschkind im eigentlichen Sinne war. Nur ein Ersatz, verstehst du?"
"Blödsinn, wenn du mich fragst."
"Aber verstehen tust du es doch, oder?", fragt Nathalie. "Ich meine, was das für mich bedeutet."
"Klar. Ich finde nur, dass du dir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen solltest. Deine Eltern lieben dich und gut. Mehr gibt’s darüber nicht nachzudenken."
Nathalie schätzt ihre klare n Worte. Aber versteht Jenny sie wirklich? Die Gedanken, die sie in den letzten Tagen beschäftigt haben?
"Du hast ja Recht. Viel wichtiger ist mir jetzt auch, dass ich endlich bei der Sache mit Fiona weiterkomme."
"Die Sache mit Fiona?"
"Na du weißt schon. Dass ich endlich mehr erfahre."
"Bist du denn da immer noch so hinterher? Ich dachte, dieser Typ ist jetzt erstmal kein Thema mehr, nachdem er mit dieser Sex-Geschichte angefangen hat. Du willst doch nicht noch mal zu ihm, oder?"
"Ich hab keine Ahnung, was ich noch machen werde. Wenn Mama weiterredet, so wie bisher, brauch ich nicht zu forschen. Andererseits gibt es auch so viel, das ich wissen möchte, das sie vielleicht gar nicht weiß. Ich meine, wenn Fiona mir so ähnlich war wie Mama sagt, dann hat sie ihr garantiert nicht alles erzählt."
"Aber vielleicht ja in ihr Tagebuch geschrieben."
"Das ist es ja gerade. Das Tagebuch endet plötzlich und ich hab keine Ahnung, ob danach noch was passiert ist oder ob es bedeutet, dass..." Sie stockt. Sie kennt die ungefähre Zeit, in der Fiona sich das Leben nahm. Aber wie lange nach ihrem letzten Eintrag ist es tatsächlich geschehen? Mehr als einmal hat sie sich diese Frage gestellt.
"Warum willst du das überhaupt alles so genau wissen?", fragt Jenny. "Ich meine, was damals passiert und so. Das war doch ne ziemlich schlimme Sache und sicher auch ne schlimme Zeit für deine Eltern. Ich könnte mir vorstellen, dass sie vielleicht nicht so gerne darüber reden."
"Aber ich gehöre zur Familie und ich habe ein Anrecht, alles zu wissen. Das sind schließlich meine Wurzeln und mit der Grund, warum ich ticke wie ich ticke."
"Und die Sachen, die dir deine Mutter jetzt erzählt hat?"
"Haben nichts mit dem Selbstmord zu tun. Nur mit Fiona und ihrer Persönlichkeit. Wie sie halt war. Was sie gern gemacht hat und so."
Nathalie lächelt, als ihr ein Gesprächsfetzen einfällt. "Hab ich dir übrigens schon erzählt, dass sie auch gemalt hat? Krass, oder? Ich meine, ist doch fast dasselbe wie ich jetzt mit dem Design für die
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