Unser Sommer in Georgia
ihn sehen? An seinem Leben ... teilhaben?« Jetzt schien seine tiefe Stimme zu beben.
»Oh ja! Ja, ich möchte, dass ihr ihn kennenlernt -« Riley schaute zwischen den beiden hin und her. »Aber erst möchte ich es ihm sagen.«
Mrs Rutledge nahm die Hand ihres Mannes. »Wir haben hier noch bis Samstag gemietet.« Sie schaute Riley an. »Du weißt ja, dass wir jetzt in Edisto wohnen. Das ist gar nicht so weit von hier - bloß ein paar Stunden mit dem Auto.«
»Ich rufe sofort bei der Hausvermietung an«, erklärte Mr Rutledge.
»Ich gehe jetzt, damit ihr unter euch sein könnt.« Riley legte die Hand auf den Türgriff. »Wie wäre es denn, wenn ihr morgen Abend zum Essen kämt? Meine Wohnung ist winzig, aber wir könnten unten im Café essen ...«
»Ach, das wäre wunderbar!« Mrs Rutledge lächelte, während sie sich über die Augen wischte.
Mr Rutledge nickte wortlos und schloss Riley einfach noch einmal in die Arme.
Riley ging ums Haus herum zu ihrem Wagen. Ihr fiel auf, dass ihr eigenes Lächeln jetzt echt war und frei von Angst. Neue Möglichkeiten schienen sich aufzutun, denn sie hatte neue Menschen in ihr Leben eingeladen - und in das von Brayden.
Am nächsten Morgen stand Riley über ihren schlafenden Sohn gebeugt und fragte sich, ob es wohl ein Buch oder eine Anleitung gab, die ihr helfen könnten, ihrem Sohn zu erklären, dass der Vater, den er nie gekannt hatte, tot war. Wahrscheinlich gab es tausend Möglichkeiten, das verkehrt zu machen, und die einzige richtige Art und Weise kannte sie nicht.
Sie setzte sich auf die Bettkante und strich Brayden mit dem Zeigefinger über die Wange; er bewegte sich unter der Berührung. Brayden hatte mit fünf Jahren zum ersten Mal nach seinem Vater gefragt. Riley hatte ihm damals erzählt, dass sein Vater weit fort in einem Krieg kämpfe - und das stimmte ja auch. Im Laufe der Jahre hatte sie sich immer wieder darauf vorbereitet, weitere Fragen zu beantworten - warum sie nicht mit seinem Vater zusammenlebten und warum er nie zu Besuch kam. Aber Brayden hatte nur noch ein weiteres Mal gefragt, mit sechs Jahren, nachdem sein Großvater gestorben war. Als Riley ihn an jenem Tag ins Bett gebracht hatte, flüsterte er: »Ist der Krieg, in dem Dad kämpft, so weit weg, dass er gar nichts von mir weiß?«
»Ja, Brayden«, hatte sie geantwortet, »dein Dad weiß nichts von dir.«
»Hast du ihn lieb?«
»Ich habe ihn lieb, weil ich dich von ihm bekommen habe.« Sie gab ihm einen Gutenachtkuss.
Jetzt öffnete Brayden die Augen und schaute Riley überrascht an. »Ich dachte, ich könnte ausschlafen«, brummte er.
»Ich muss mit dir sprechen.«
Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. »Ist irgendwas passiert?«
»Komm in die Küche! Ich mache dir dein Lieblingsfrühstück, deine Gourmet-Pop-Tarts.«
Er blinzelte und murmelte etwas, was wie »Okay« klang.
Riley saß an ihrem zerkratzten Küchentisch und machte eine Bestandsaufnahme der Dinge, von denen sie sich bald verabschieden würde: von der Küche, die sie schon immer hatte renovieren wollen; von den schiefen, zerkratzten Bodendielen; von der knarrenden Treppe; vom vertrauten Sausen des Windes, der vom Atlantik kam. Sie presste die Finger auf die Augenlider, um die Tränen zu unterdrücken. Im Moment musste sie sich auf Brayden konzentrieren.
»Mummy?«, fragte er unsicher.
Sie reichte ihm einen Teller mit zwei getoasteten Pop-Tarts. »Ich möchte mit dir über deinen Vater sprechen.«
Brayden nahm das erste Gebäckstück in die Hand, betrachtete es und legte es wieder auf den Teller zurück. »Du hast es mir doch schon erzählt, Mummy. Wir müssen das nicht noch mal besprechen. Er weiß nichts von mir; er ist im Krieg. Ich hab's begriffen. Wenn du jetzt ein schlechtes Gewissen hast, weil ich beim Elterntag oder so keinen Vater habe - also, ich finde das nicht schlimm, wirklich nicht.« Seine Antwort war so schroff und so bestimmt, dass es Riley einen Stich versetzte.
»Bitte, Brayden, hör mir kurz zu!« Sie holte tief Luft. »Dein Vater hieß Sheldon Rutledge.«
Den Blick, mit dem Brayden sie anschaute, hatte sie erst einmal von ihm gesehen: als sie wegen eines Hurrikans das Haus verlassen mussten. Angst vor dem Unbekannten lag darin.
»Er war ein unglaublicher, wunderbarer Mann; er konnte laut lachen und hatte ein großes Herz. Er ist zur Air Force gegangen, weil er seinem Land dienen wollte. Er hatte immer davon geträumt zu fliegen. Und das hat er auch getan. Ich habe einen Riesenfehler gemacht
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