Unser Sommer in Georgia
liest, aber dabei selbst gar nicht richtig lebt.«
Riley stutzte und sagte dann gekränkt: »Das hast du schon immer so gemacht, Adalee. Schon immer.«
»Was denn?« Adalee breitete die Arme aus und riss ihre rotgeränderten Augen weit auf.
»Du versuchst, deine eigenen Verletzungen anderen Leuten anzuhängen. Es tut mir leid, dass du Ärger mit deinem Freund hast, aber lass das bitte nicht an mir aus!«
»Ich habe doch bloß gemeint ... Ich habe gemeint, dass du so viele Bücher liest. Ich kenne niemanden, der so viel schmökert wie du. Aber abgesehen davon arbeitest du nur und kümmerst dich um Brayden. Ich meine, du willst bestimmt doch auch manchmal ausgehen und dich verabreden oder reisen oder -«
»Dass es dir nicht passt, wie ich mein Leben organisiere, heißt ja noch längst nicht, dass es mir selbst auch nicht passt.«
»Wie bitte? Es macht dir Spaß, dauernd nach Mamas Pfeife zu tanzen?«
Bei Adalees Worten, die so rasch auf Maisys Vorwürfe folgten, wurde Riley flau. »Das klingt überhaupt nicht nach dir, Adalee. Du zitierst Maisy. Du führst genau ihre Worte im Mund. Aber wenn ihr beiden meint, ihr müsstet mich einer Psychoanalyse unterziehen, dann macht das bitte allein!«
Riley drehte sich um und marschierte zur Ladentür, um die ersten Gäste für die Abendveranstaltung zu begrüßen. Als sie einen Blick auf das verzauberte Gesicht der lesenden Mrs Harper wagte, schmerzte ihr Herz. Adalee hatte ihre schlimmsten Befürchtungen angesprochen. Und Maisy hielt sich immer noch im Büro auf. Mit jedem Atemzug bereute Riley mehr, dass sie ihrer Schwester die Wahrheit über ihre Mutter so an den Kopf geknallt hatte.
Mack und Sheppard kamen herein. Riley lehnte sich gegen einen Pfeiler und beobachtete Vater und Sohn. Wenn sie einfach still stehen blieb, ruhig atmete und die Einzelheiten ihres Ladens wahrnahm, würde es ihr gleich wieder gutgehen. Doch da begegnete sie Macks Blick. Ihr Inneres begann zu vibrieren wie eine Stimmgabel. Sie wandte sich ab. Ja, sie war erschöpft, und nur deshalb hatten die Worte ihrer Schwester sie so treffen können. Oder vielleicht wurde sie auch krank. Sie musste die nächsten Tage irgendwie überstehen, dann konnte sie wieder normal weiterleben.
Plötzlich stand Mack neben ihr. Sie hielt die Hände auf dem Rücken, um ihm nicht durchs Haar zu streichen oder ihm die Arme um den Hals zu werfen. Sheppard schlenderte zu einem Sessel, ließ sich darin nieder, schloss die Augen und legte den Kopf zurück.
»Wenn ich ihn so sehe«, sagte Mack mit einer Kopfbewegung zu seinem Vater hinüber, »kann ich mich in die Zeit zurückversetzen, als das Haus noch uns gehörte, als die Welt in Ordnung und Dad kerngesund war ...«
»Ich weiß.« Riley spürte, dass sie sich in diesem Moment verstanden.
»Ich sehe das Scrabble auf dem Sofatisch und das Puzzle mit den tausend Teilen, das den ganzen Sommer über dalag. Mummy summte die Melodien im Radio mit. Joe war hinten auf der Veranda und spülte das Salzwasser von den Angeln ...«
Während Mack zu ihr sprach, war Riley, als hätte der Raum sich verändert, als wären die Bücher verschwunden.
Mack lachte leise. »Ich erinnere mich an einen bestimmten Tag - du und ich, wir müssen neun oder zehn gewesen sein. Du kamst durch die Hintertür gestürmt, direkt aus der Kirche, und hast gerufen, es wäre nur noch eine halbe Stunde Flut. Wenn wir noch mit dem Boot rauswollten, müssten wir sofort los.
Ich hab dich groß angeguckt, wie du da in deinem Sonntagskleid vor mir standest, das Haar mit einer weißen Satinschleife zurückgebunden, und dann hab ich gesagt: ›Du siehst ja wie ein Mädchen aus.‹ Da hast du mich angestarrt, als wäre ich der größte Idiot auf der ganzen Welt, und hast gesagt: ›Das kommt, weil ich ein Mädchen bin, du Blödmann.‹ Mummy hat mir daraufhin eröffnet, ich wäre der geborene Herzensbrecher.«
Riley konnte sich an diese Szene nicht erinnern. »Und dann?«
Mack zuckte die Schultern. »Dann sind wir vermutlich mit dem Boot rausgefahren, mit dem Sailfish, nehme ich an.«
Riley drückte die Hand gegen den Pfeiler, um sich ins Hier und Jetzt zurückzuholen, in die Gegenwart. So war das mit den Erinnerungen - jeder Mensch trug eigene Bilder aus der Vergangenheit mit sich herum. Mack erinnerte sich an Ereignisse, von denen sie nichts mehr wusste, oder er hatte seine eigene Version von Ereignissen, an die sie sich beide noch erinnern konnten. Er hatte andere Erinnerungen als sein Vater, und seine
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