Unser Spiel
mir, bitte. Ich bin verzweifelt.«
»Das ist Sebastian«, sagte sie und ging in den Flur.
Ich hörte Stimmen, dann jugendliche Schritte, die die Kellertreppe hinuntergingen. In einem Anfall anachronistischer Entrüstung begriff ich, daß sie mein altes Arbeitszimmer requiriert und zu ihrem Sprechzimmer gemacht haben mußte. Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück und nahm genau wie zuvor auf der Lehne Platz. Ihr Gesicht war so entschlossen, daß ich dachte, sie würde mich zum Gehen auffordern. Bis mir klar wurde, daß sie einen Entschluß gefaßt hatte und ihn mir jetzt mitteilen würde.
»Er hat gefunden, was er gesucht hat. Mehr weiß ich nicht.«
»Und was hat er gesucht?«
»Das hat er nicht gesagt. Und wenn er es gesagt hätte, würde ich es dir wahrscheinlich nicht verraten. Stell kein Verhör mit mir an, Tim, nicht mit mir. Du hast mich sieben Jahre lang in die Firma geschleppt, und das war schlimm genug. Ich will von eurer Moral nichts wissen, und eure Pflichten gehen mich nichts an.«
»Das ist kein Verhör, Diana. Ich stelle dir eine Frage: Was hat er gesucht?«
»Den perfekten Ton. Das war immer sein Traum, hat er gesagt. Einen perfekten Ton zu spielen. Er hat sich immer sehr anschaulich ausgedrückt. Hat mich angerufen. Er habe ihn gefunden. Den Ton.«
»Wann?«
»Vor einem Monat. Ich hatte den Eindruck, er breche irgendwohin auf und wolle sich verabschieden.«
»Hat er gesagt, wohin?«
»Nein.«
»Hat er etwas angedeutet? «
»Nein.«
»Ins Ausland? Nach Rußland vielleicht? War es was Aufregendes? Was Neues?«
»Er hat keinerlei Andeutung gemacht. Er war ziemlich sentimental.«
»Du meinst betrunken?«
»Ich meine sentimental, Tim. Du hast Larrys schlimmste Seiten geweckt, aber das bedeutet noch lange nicht, daß du irgendwelche Besitzrechte an ihm hast. Er war sentimental, es war spätabends, und Edgar war hier. › Diana, ich liebe dich, ich hab’s gefunden. Ich habe den perfekten Ton gefunden.‹ Er hatte sein Gleichgewicht wiedererlangt. Er war mit sich im reinen. Das wollte er mir mitteilen. Ich habe ihm gratuliert. «
» Hat er dir ihren Namen genannt?«
»Nein, Tim, er hat nicht von einer Frau gesprochen. Larry ist erwachsen genug, er weiß, daß wir nicht die Antwort auf alles sind. Er hat von Selbstfindung gesprochen, von Selbstverwirklichung. Es wird Zeit, daß du lernst, ohne ihn zu leben.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, sie anzuschreien, und mir bis jetzt große Mühe gegeben, es zu vermeiden. Aber da sie sich zur Hohepriesterin der Selbstdarstellung ernannt hatte, glaubte ich keinen Grund zu haben, mich zurückzuhalten. »Es ist mein größter Wunsch, ohne ihn zu leben, Diana! Ich würde mein gesamtes Vermögen hergeben, um Larry und seine verdammten Machenschaften für den Rest meiner Erdentage loszuwerden. Aber leider sind wir unlösbar aneinandergekettet, und deshalb muß ich ihn finden, zu meiner eigenen Rettung und wahrscheinlich auch zu seiner.«
Sie lächelte jetzt den Boden an, was sie vermutlich immer tat, wenn Patienten sie anbrüllten. Ihre Stimme wurde ganz besonders milde.
»Und was macht Emma?« erkundigte sie sich. »Immer noch so jung und schön?«
»Ja, danke, alles bestens. Warum fragst du? Hat er auch von ihr gesprochen?«
»Nein. Aber du auch nicht. Das hat mich gewundert.«
* **
Ich ging bergauf. Wenn man in Hampstead bergauf geht, ist man ein Forscher, und wenn man bergab geht, steigt man in die Hölle zurück. Dünnere Luft, dichterer Nebel, Backsteinhäuser und georgianische Fassaden. Ich ging in einen Pub, trank einen großen Scotch und noch einen, dann noch einige und dachte an den Abend, als ich mit dem schwarzen Licht im Kopf nach Honeybrook gekommen war. Falls in dem Pub Leute waren, sah ich sie nicht. Ich zog wieder los und fühlte mich nicht anders als vorher.
Ich bog in eine Nebenstraße. Auf einer Seite eine hohe Backsteinmauer. Auf der anderen ein Eisengitter wie aus Speeren. Am hinteren Ende eine aus hellem Holz gebaute Kirche, der Turm vom Nebel geköpft.
Ich fing an zu fluchen.
Ich verfluchte das englische Joch, das mich mein Leben lang eingeschränkt und vorwärtsgedrängt hatte.
Ich verfluchte Diana, weil sie mir die Kindheit gestohlen und mich dabei verachtet hatte.
Ich erinnerte mich an all das quälende Hin und Her auf der Suche nach Gemeinschaft, die gescheiterten Affären, die ewigen Rückfälle in die Einsamkeit.
Und nachdem ich das England verflucht hatte, dessen Geschöpf ich war, verfluchte ich die Firma als
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