Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabor Steingart
Vom Netzwerk:
die Folgen ihres Tuns mochten die Unternehmer damals keine Verantwortung übernehmen. Krankheit und Invalidität ihrer Belegschaften interessierten sie zunächst so wenig wie die Folgen von Arbeitslosigkeit oder das Leben im Alter. Die Arbeiterheere, die sich als »Proletarier« bezeichneten, fühlten sich wie Fremde im eigenen Land, auch wenn der gesellschaftliche Wohlstand generell gewachsen war und mehr Menschen davon profitierten als im Feudalismus.
    Wirklich schlecht erging es den Frauen und Kindern, die zu jener Zeit weniger Rechte besaßen als ein Hofhund. Die Frauen befanden sich in der Leibeigenschaft ihrer Männer. Nicht gewollte Schwangerschaften – und davon gab es reichlich – wurden durch » Engelmacher « beendet, schon um die Zahl der zu stopfenden Mäuler nicht weiter zu erhöhen. Wer sich die Abtreibung durch einen Arzt nicht leisten konnte, trank einen Liter Gin oder stürzte sich so oft die Treppe hinab, bis die Gebärmutter das werdende Leben nicht länger halten konnte.
    Die soziale Lage blieb auch 100 Jahre nach Einführung der Dampfmaschine prekär, weshalb in diesen wilden kapitalistischen Jahren Aufruhr und Rebellion in der Luft lagen. Zwei Attentate gab es auf den deutschen Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1883, die zum Verbot der noch jungen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien führten. Im Londoner Hyde Park marschierten am 1. Mai 1890 mehr als eine halbe Million Arbeiter auf, um für die Einführung des Acht-Stunden-Tages zu demonstrieren. Überall kam es zu illegalen Gewerkschaftsgründungen. Im England des Jahres 1900 entstand die Labour Party. In Deutschland ging aus dem bereits 1863 gegründeten Arbeiterverein des Ferdinand Lassalle die SPD hervor. Auch in den USA kam es zur Gründung von Arbeiterparteien.
    Die Mächtigen sahen die Zeichen der Zeit, aber sie interpretierten sie falsch. Sie unterschätzten die emanzipatorische Kraft der Arbeiterbewegung. Zunächst versuchten sie, sich den sozialen Begehrlichkeiten dadurch zu entledigen, dass sie den aufmüpfigen Arbeitern scheinbar entgegenkamen. Die Motive der Wohltäter, die nun in vielen Familienunternehmen auf den Plan traten, waren nicht frei von Eigennutz. Durch die Förderung des Vereinslebens, die Errichtung von Unterstützungskassen und den Betrieb eigener Hospitäler wollte man das Entstehen eines Klassenbewusstseins verhindern. Die Arbeiter sollten den großen historischen Kontext, in den sie hineingeboren waren, nicht erkennen. Man wollte sie an die Idee gewöhnen, dass der erarbeitete Wohlstand nur für wenige reserviert ist und das Leben aus einer Abfolge von monotoner Arbeit und Willkürlichkeiten aller Art besteht.
    Der heute vielfach für sein soziales Engagement gelobte Alfred Krupp gab 1877 in einer Ansprache an die Belegschaft einen Blick auf seine wahren Motive frei: » Genießt, was euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen. Das sei eure Politik, dabei werdet ihr frohe Stunden erleben. Aber für die große Landespolitik erspart euch die Aufregung. Höhere Politik erfordert mehr Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. «
    Die Politiker verfuhren mit dem entstehenden Industrieproletariat in gleicher Weise. Man errichtete allerlei Blendwerk. In Deutschland und in England wurden 1883 beziehungsweise 1911 Sozialversicherungssysteme eingeführt, die bis heute als vorbildlich gelten.
    Aber die Erinnerung malt mit goldenem Pinsel. Die Sozialreformer der kapitalistischen Gründerjahre waren keine Wohltäter, sondern Schlitzohren. Das Bismarck’sche Rentensystem zahlte eine Altersrente erst ab dem 70. Lebensjahr aus. Der durchschnittliche Deutsche aber war zu diesem Zeitpunkt bereits 30 Jahre tot. In England dasselbe Spiel: Die Rente für Arbeiter betrug fünf Schilling pro Woche, auszahlbar ab dem 70. Lebensjahr. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag damals in Großbritannien bei 50 Jahren. Im Gegenzug aber wurden – da die Kriegsführung kostspielig war – immer wieder die Steuern erhöht.
    Rechnet man den Blutzoll dazu – im Zeitalter der Kolonialkriege starben rund 25 000 Menschen auf Seiten der Angreifer und mehr als eine Million Menschen auf Seiten der Verteidiger –, war diese verrohte Phase des Kapitalismus für die einfachen Menschen eine Zumutung sondergleichen. Selbst bürgerliche Ökonomen wie Friedrich List sprachen von der » Bestialisierung « der Gesellschaft. So schaufelten sich die Kapitalisten mit ihrer Rücksichtslosigkeit

Weitere Kostenlose Bücher