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Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabor Steingart
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Kopf um durchschnittlich 6,5 Prozent und damit doppelt so schnell wie der Pro-Kopf-Wohlstand in den Niederlanden und in Norwegen, dreimal so schnell wie der Pro-Kopf-Wohlstand in Großbritannien und viermal so schnell wie die Vergleichsziffer in den USA .
    Was noch mehr beeindruckte als das hohe Wachstumstempo der ersten Dekade, war, dass die Wirtschaft 20 Jahre lang eine nur geringe Neigung zu Schwankungen zeigte. Auch die Nachkriegsgeschichte von 1949 bis 1970 kannte Konjunkturzyklen, das Auf und Ab von Angebot und Nachfrage, das sich unmittelbar auf die Zahl der Arbeitsplätze und die Einnahmen des Staates auswirkte. Aber diese Schwankungen waren so gering wie nie zuvor und nie danach. Zwischen 1920 und 1938 betrug der deutlichste Rückgang beim Wirtschaftswachstum minus 16 Prozent, die Industrie brach an ihrem tiefsten Punkt um 40 Prozent ein. In den 22 Jahren zwischen 1949 bis 1970 (von denen Erhard 18 Jahre als Wirtschaftsminister und Kanzler wirkte) fiel die Industrieproduktion maximal um zwei Prozent. Das » Wachstum « drehte sogar nur um 0,2 Prozent in den roten Bereich. Erhard brachte also nicht nur Wohlstand. Er brachte vor allem Stabilität.
    Es lebe der Widerspruch – wie man ein paradoxes Ordnungssytem im Gleichgewicht hält
    Erhards Kunststück bestand darin, die Privatwirtschaft von der Diktatur des Staates befreit zu haben, ohne sie erneut zu entfesseln. Der kapitalistische Wolf wurde durch strengere Spielregeln und neue Institutionen domestiziert und die Gesellschaft so gegen Rückfälle immunisiert. Es kam zur friedlichen Koexistenz der geschichtsmächtigen Gegenspieler Kapital und Arbeit. Die Wirtschaft verstand sich nicht mehr als Gegner und Ausbeuter der Menschen, sondern als ihr Partner. Während die Linken über einen » Dritten Weg « zwischen Kapitalismus und Sozialismus debattierten, hatte ihn Erhard längst beschritten.
    Es wurde in den nun folgenden Jahren ein System begründet, das auf Paradoxien beruhte. Alles Kapitalistische wurde bejaht und zugleich eingeschränkt. Der Staat hatte das Sagen, aber nie allein. Das Privateigentum wurde garantiert, aber nur unter der Prämisse, dass es sich » sozial « verhält. » Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen « , heißt es in der neuen Verfassung, die bis heute gilt.
    Arbeitnehmer und Arbeitgeber dürfen sich organisieren und im Falle des Tarifkonflikts den jeweils anderen nach fest vereinbarten Regeln bestreiken oder vorm Werkstor aussperren. Aber am Ende aller Konflikte hatten Zusammenarbeit und Vertragstreue zu stehen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wurden zur » Friedenspflicht « verdonnert, wie es seit damals in der Verfassung heißt.
    Auch die großen Konzerne durften und sollten sich auf den Märkten duellieren, aber keiner durfte den anderen derart in die Enge treiben, dass nur einer übrigblieb. Das Kartellamt und die Monopolkommission standen von nun an als Sittenpolizei bereit, um Wettbewerb und freie Preisbildung zu überwachen. Erhard betrachtete schon die versuchte Kartellbildung als ernsten Angriff auf die Wirtschaftsordnung: » Ich bin auch deshalb ein grundsätzlicher Gegner von Kartellen, weil eine echte und ehrlich gemeinte soziale Marktwirtschaft nur dann gewährleistet sein kann, wenn durch den freien Wettbewerb die bessere Leistung den Vorrang vor der schlechteren erhält. Eine klare Wettbewerbsordnung und eine straffe Kartellaufsicht sind die tragenden Säulen der sozialen Marktwirtschaft. « Das waren Sätze von so großer Erhabenheit und Lebensklugheit, dass die Unternehmer zwar alles Mögliche unternahmen, sie zu unterlaufen. Aber niemand traute sich zu widersprechen. Erhard hatte die Lufthoheit auch über den Chefetagen erobert.
    Im Erhard’schen Universum bestand ein für alle gültiger Zwang zum Sich-Arrangieren, zum Aushalten des jeweils anderen. Die alte Herr-im-Haus-Mentalität der Unternehmer war politisch nicht mehr erwünscht. Anders als beim » Monopoly « , wo der größte Raffzahn gewinnt, gehörten nun Opernplatz und Schlossallee immer beiden, den Tarifparteien, den Sozialpartnern, den Wettbewerbern, die miteinander konkurrierten, aber sich nicht vernichten sollten. Und auch die alte kapitalistische Grundregel, die Bank gewinnt immer, war in diesen wundersamen Erhard-Jahren außer Kraft gesetzt.
    Die Marktwirtschaft funktionierte in Erhards Verständnis übrigens auch ohne den Zusatz » sozial « , den er selbst gar nicht mochte. Die Marktwirtschaft müsse

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