Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Hindernis waren, fegte den Unsinn der deutschen Zeitzonen vor mehr als 120 Jahren hinweg.
Ohne die Ausweitung des Marktes würden wir in Europa noch immer die Waren in Unzen und Lot, Zentner und Zuber wiegen und in Elle, Yards, Klafter, Ruten und Meilen messen. Aber der einheitliche Binnenmarkt der Europäischen Union beendete diese historisch überlieferte Unbequemlichkeit mit einem Federstrich.
Ohne die Ausweitung des Marktes würden wir beim Reisen durch unseren Heimatkontinent noch immer Wegezoll zahlen, würden Ausweisdokumente beantragen, vorzeigen und verlängern, würden unsere Zeit in Wechselstuben verbringen, könnten den elektrischen Strom im Nachbarland nur mit Adapter oder gar nicht benutzen, wären vor ausländischen Gerichten rechtlos, und zum Befahren fremder Länder müssten wir deren Verkehrsregeln studieren.
Natürlich sollte das Loblied auf den Wettbewerb nicht zu hoch angestimmt werden. Auch der Wettbewerb ist ein Mittel, kein Zweck. Er ist ein Prinzip, das seinerseits wiederum Prinzipien braucht – gerade auf dem Arbeitsmarkt. Ein prinzipienloser Wettbewerb hätte viele Gesichter, er sähe aus wie der Spekulant, der Rauschgifthändler oder der Waffenschieber, wäre wirtschaftlich effektiv, aber wertfrei, er würde sich rechnen, aber nicht lohnen. Röpke sagte: » Menschen, die auf dem Markte sich miteinander im Wettbewerb messen und dort auf ihren Vorteil ausgehen, müssen umso stärker durch die sozialen und moralischen Bande der Gemeinschaft verbunden sein, andernfalls auch der Wettbewerb aufs Schwerste entartet. «
Das Individuum, der mündige Konsument, wie man heute sagt, hatte damit einen deutlichen Sprung nach vorn gemacht. Nicht mehr von der Zuteilung durch die Familie, den Lehnsherrn, den Fürsten, den Diktator oder das Militär war der Einzelne abhängig. Der Markt und die gängigen Tauschbeziehungen ermöglichten dem Menschen den aufrechten Gang. Märkte sind so gesehen die Urform der Demokratie, nur dass hier mit Geld abgestimmt wird.
Das alles klingt harmonischer, als es ist, denn der Einzelne hat auch das Recht, eine Ware abzulehnen, eine Firma zu meiden, eine Dienstleistung zu verschmähen. Er hat das Recht, andere zu enttäuschen. Wobei Enttäuschung, wenn sie massenhaft auftritt, all das bedeuten kann, was wir täglich in der Zeitung lesen: Umsatzrückgang, Kurzarbeit, Konkurs. Der Markt lässt nicht nur Firmen, sondern auch ganze Produktgruppen und Dienstleistungen – die Postkutsche, den Fernschreiber, die Schreibmaschine, den Plattenspieler und in naher Zukunft womöglich das Faxgerät und das gedruckte Buch – verschwinden.
Das wird von den Verlierern dieses Ausleseprozesses als grausam und ungerecht empfunden. Denn am Ende sind eben der Warenmarkt und der Arbeitsmarkt durch ein unsichtbares Band verbunden. Lehnen wir den Plattenspieler ab, ist es um den Arbeiter in der Plattenspielerfabrik nicht gut bestellt. Der Plattenspieler wird ausrangiert. Der Arbeiter aber darf und soll nicht ausrangiert werden.
Auf dem Arbeitsmarkt, dem Menschenmarkt, hat der Staat daher ein gewichtiges Wort mitzureden. Der Markt darf gerade hier nicht das letzte Wort besitzen. Das Wohlstandsversprechen hat Vorrang vor dem Rentabilitätsversprechen, sodass vom Gewinn eben ein nicht unerheblicher Teil abgezwackt werden muss, um Rückstellungen für den Fall der Fälle zu treffen. Kein deutscher Arbeiter und kein Angestellter wird seit dem Systemwechsel vom Kapitalismus zur Marktwirtschaft in die Hoffnungslosigkeit entlassen. Es gibt weiter Entlassungen. Aber der Weg des Entlassenen führt in Richtung Arbeitsamt, und in aller Regel wartet im Personalbüro eine kleine Abfindung auf ihn.
Auf dem Arbeitsmarkt lässt sich die neue Arbeitsteilung von Staat und Privatwirtschaft idealtypisch besichtigen: Der Staat darf das Ausscheiden von Waren und Warenproduzenten, die auf dem Markt nicht überzeugen können, zwar nicht verhindern. Aber er muss sich um die Folgen des Scheiterns kümmern. Darin lag nach 1945 die gemeinsame Arbeitsplatzbeschreibung von Staat und Wirtschaft: Seid effizient, aber seid auch sozial. Schafft Neues, aber vernichtet dabei nicht Existenzen. Kümmert euch um Wachstum, aber tut es, ohne die Werte des Humanismus zu verraten.
Der Markt dieser frühen marktwirtschaftlichen Jahre war weder der Ausbeuter, als den Karl Marx ihn sah, noch war der Staat der Schmarotzer, als den Milton Friedman ihn beschrieb. Beide haben die Privatheit der Produktionsverhältnisse absolut gesetzt.
Weitere Kostenlose Bücher