Unsichtbar und trotzdem da!, 5, Spur der Erpresser (German Edition)
Café mit roten Samtvorhängen. Ein Café, in dem der Boden aus denselben Pflastersteinen gemacht war wie der Bürgersteig. Eine S-Bahn-Brücke, unter der die Tauben hockten und auf den Bürgersteig kackten. Nur von einem verlorenen Brunnen war nichts zu sehen.
Dann kreuzte die breite Kantstraße. Und dahinter setzte sich die Bleibtreustraße nur noch ein paar wenige Meter fort.
„Langsam wird’s eng“, murmelte Addi.
Doch sie hatten die Kantstraße kaum überquert, als Ağan plötzlich stehen blieb und quer über die Fahrbahn deutete.
Vor einem kleinen Spielplatz mit einem festen Sandhügel, Rutsche und Wackeltieren stand die rothaarige Gräfin in der Morgensonne. Sie trug ein langes, um ihre Beine flatterndes schwarzes Kleid und ihren alten Pelzmantel darüber. Ihre helle Haut leuchtete papierfein und ihre schmale, hohe Nase zitterte in der frischen Luft.
„Meine Lieblinge“, rief sie leise. „Meine Lieblinge! Wo seid ihr bloß? Wenn ich euch doch nur finden könnte!“
Jenny Addi und Ağan blieben regungslos stehen.
„Das glaube ich nicht“, flüsterte Addi. „Da ist sie.“
Ağan strahlte. „Wusste ich doch, dass wir sie finden!“
„Aber was macht sie hier?“, fragte Jenny.
„Sie sieht sich den Spielplatz an.“ Ağan setzte sich wieder in Bewegung und ging auf die alte Dame zu.
„Guten Tag, meine Dame“, grüßte er höflich. „Ist es wahr, dass sich hier ein verlorener Brunnen befindet?“
Die Gräfin wandte sich ihm zu. Jetzt im hellen Tageslicht wirkte ihr Gesicht viel älter als nachts auf dem Schiff. Und ihre Augen hinter der eckigen Brille hatten einen trüben Glanz.
„Ja, Junge“, sagte sie. „Hier war sie, die Mikwe. Genau, wo jetzt der Spielplatz ist. Als Mädchen bin ich oft hier gewesen und habe mich unten zwischen den dunklen Steinen gewaschen. Aber woher weißt du davon?“
„Aus einem Rätsel“, antwortete Ağan, „einem Rätsel, das meine Freunde und ich lösen wollen.“
„Was ist eine Mikwe?“, fragte Jenny.
„Ach ja.“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Das könnt ihr nicht wissen. Dafür seid ihr zu jung. Die jungen Leute wissen viel weniger als die Alten. Und doch wissen die Alten noch weniger über das wenige, was die Jungen wissen. Was für eine Welt. Nicht wahr?“ Sie sah versonnen und etwas traurig auf den Spielplatz. Und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Hier bin ich immer zuerst mit ihnen hingegangen. Wir haben den Kindern beim Spielen zugesehen. Die beiden mögen Kinder. Und ich habe dann an früher und die Mikwe gedacht. Ja, und dann sind wir weiter die Straße entlang, bis hinunter zum Park. Mein Arzt hat gesagt, meine beiden Lieblinge sind die beste Medizin für mich. Sie halten mich jung. Aber jetzt sind sie vielleicht selbst schon tot und ich kann nichts mehr tun. Wenn sie fort sind, werde ich auch bald fort sein.“ Die alte Dame wirkte, als spräche sie zu sich selbst.
Jenny fasste sie vorsichtig am Arm. „Aber was ist eine Mikwe?“
„Ach so, ja ... Das wolltet ihr ja wissen, für euer Rätsel. Da habt ihr Glück, dass ihr mich getroffen habt. Wer weiß das heute schon noch? Kommt!“
Ohne abzuwarten, drehte die Gräfin sich um und setzte sich in Bewegung.
„Wo will sie denn hin?“, flüsterte Addi.
„Keine Ahnung, aber ich glaube, es ist besser, wir gehen mit“, meinte Ağan.
Jenny zögerte. „Ich soll aber nicht mit Fremden mitgehen. Und ihr könnt sagen, was ihr wollt, sie ist eine Fremde.“
„Ja, das ist sie“, bestätigte Ağan. „Aber wir haben diese Aufgabe übernommen und wir müssen sie jetzt zu Ende führen. Außerdem habt ihr doch gehört, was sie gesagt hat. Ohne ihre Lieblinge stirbt sie. Das hat sogar ihr Arzt gesagt.“
„Aber vielleicht ist das nur ein eingebildeter Arzt. So ein sehr einsamer Arzt in einem sehr einsamen Oberstübchen“, zischte Addi.
„Nein“, sagte Ağan. „Von dieser Frau geht keine Gefahr aus. Nur sehr große Liebe. Sie stand hier, weil sie sich erinnert. Und sie ist so zart wie ein Luft-Dschinn. Bitte, kommt.“
Die Gräfin war schneller, als die Unsichtbar-Affen es ihr zugetraut hätten. Nachdem sie zweimal um die Ecke gebogen war, blieb sie vor einem großen alten Mietshaus am Savignyplatz stehen. Sie zog einen Schlüssel aus der Manteltasche und öffnete die Tür.
„Kommt nur!“ Sie hielt die Tür auf. „Ich weiß, ich sollte keine Fremden in meine Wohnung bitten. Nicht nach allem, was mir widerfahren ist. Aber irgendwie macht ihr einen guten
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