Unsichtbar
freundlich und großzügig, meintest du, dich niemals über irgendwen lustig zu machen, dich niemals irgendwem überlegen zu fühlen und niemals mit irgendwem eine Prügelei anzufangen. Du warst zwölf Jahre alt. Mit dreizehn hast du den Glauben an Gott verloren. Mit vierzehn hast du den ersten von drei Sommern im Supermarkt deines Vaters gearbeitet (Kunden beim Einpacken helfen, Waren in die Regale einordnen, die Kasse bedienen, Lieferungen in Empfang nehmen, Müll wegbringen) und so die Fähigkeiten vervollkommnet, die dir später die gehobene Stellung als Laufbursche in der Bibliothek der Columbia einbrachten. Mit fünfzehn hast du dich in ein Mädchen namens Patty French verliebt. Später in diesem Jahr hast du deiner Schwester erzählt, dass du Dichter werden willst. Als du sechzehn warst, ging Gwyn von zu Hause fort, und du zogst dich ins innere Exil zurück.
Ohne Gwyn hättest du es niemals so weit gebracht. So sehr dir daran lag, dir ein Leben außerhalb der Reichweite deiner Familie aufzubauen: zu Hause war das, wo du lebtest, und ohne Gwyn als deine Beschützerin in diesem Zuhause wärst du erstickt, zugrunde gegangen, an den Rand des Wahnsinns geraten. Frühe Erinnerungen gibt es nicht, als Erstes siehst du sie als Fünfjähriger, da sitzt ihr beide nackt in der Badewanne, deine Mutter wäscht Gwyn die Haare, und du siehst in verzücktem Staunen zu, wie das weiß schäumende Shampoo die Strähnen zu bizarr abstehenden Stacheln formt, die wie Schlangen umherfliegen, als deine Schwester lachend den Kopf zurückwirft. Schon liebst du sie mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, und bis zu deinem sechsten oder siebenten Lebensjahr glaubst du fest daran, dass du immer mit ihr zusammenleben wirst, dass ihr beide einmal Mann und Frau sein werdet. Überflüssig zu erwähnen, dass auch ihr euch gezankt und einander böse Streiche gespielt habt, aber nur selten, nicht halb so oft wie die meisten anderen Geschwister. Ihr saht euch sehr ähnlich mit eurem dunklen Haar und euren graugrünen Augen, mit euren langgestreckten Körpern und kleinen Mündern, so ähnlich, dass ihr als männliche und weibliche Ausgaben ein und derselben Person hättet durchgehen können, und dann kam der hellhäutige Andy mit seinen blonden Locken und seinem pummeligen Körperbau dazwischen, und von Anfang an habt ihr ihn als komische Figur gesehen, als schlauen Zwerg in durchnässten Windeln, der nur zu dem Zweck, euch zu unterhalten, in die Familie gekommen war. Im ersten Jahr seines Lebens behandeltet ihr ihn wie ein Spielzeug, wie ein Haustier, aber als er zu sprechen anfing, kamt ihr widerstrebend zu dem Schluss, dass er wohl doch ein Mensch war. Ein richtiger Mensch, aber im Gegensatz zu dir und deiner Schwester, die ihr von eher zurückhaltendem und manierlichem Wesen wart, war euer kleiner Bruder ein Derwisch mit unberechenbaren Launen, abwechselnd fröhlich und finster; mal brach er in unbeherrschbare Schreikrämpfe aus, mal konnte er gar nicht mehr aufhören zu lachen. Es kann nicht einfach für ihn gewesen sein - das Bemühen, in den inneren Kreis vorzudringen, das Bemühen, mit seinen älteren Geschwistern mitzuhalten -, aber mit der Zeit wurde der Abstand geringer, ließ die Frustration allmählich nach, und zum Ende hin entwickelte sich das Schreibaby zu einem guten Kind - zuweilen mehr als nur ein bisschen doof (Ich bin im Seh), aber gleichwohl ein gutes Kind.
Kurz vor Andys Geburt verlegten eure Eltern dich und deine Schwester in zwei nebeneinanderliegende Zimmer im zweiten Stock. Die Räume dort oben unterm Dach waren ein Reich für sich, ein kleines, vom übrigen Haus abgeschnittenes Imperium, und nach der Katastrophe vom Echo Lake im August 1957 wurde dies eure Zuflucht, der einzige Winkel in dieser Festung des Kummers, in den du und deine Schwester euren trauernden Eltern entfliehen konntet. Natürlich habt auch ihr getrauert, aber eben so, wie Kinder trauern, egoistischer, vielleicht pathetischer, und viele Monate lang habt ihr euch damit gequält, euch gegenseitig all die nicht sehr netten Dinge aufzuzählen, die ihr Andy angetan hattet - die Sticheleien und Hänseleien, die bösen Bemerkungen, die Klapse und Schubser, die zu harten Stöße -, als habe euch ein vages Schuldgefühl gedrängt, Buße zu tun, euch in eurer Schlechtigkeit zu wälzen, indem ihr euch immer wieder in Einzelheiten über die vielen Missetaten ergingt, die ihr im Lauf der Jahre begangen hattet. Diese Gespräche haben immer abends
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