Unsichtbar
Letzte, was er sich wünscht.
Sie wohnen in der rue de Verneuil im siebenten Arrondissement, einer Parallelstraße der rue de l'Universite; im Gegensatz zu der palastartigen Residenz von Margots Familie ist die Wohnung der Juins klein und schlicht möbliert, was zweifellos Helenes bedrängten finanziellen Verhältnissen nach dem Unfall ihres Mannes geschuldet ist. Aber das Ganze ist außerordentlich gepflegt, bemerkt Walker, alles an seinem Platz, sauber, ordentlich, adrett, von der fleckenlosen Glasplatte des Couchtischs bis zum glänzend gebohnerten Parkett, so als sei der Wille zur Ordnung ein Versuch, das Chaos und die Unvorhersagbarkeit der Welt von sich fernzuhalten. Wer könnte Helene einen so fanatischen Eifer zum Vorwurf machen?, denkt Walker. Sie versucht, sich zusammenzuhalten. Sie versucht, sich und Cecile zusammenzuhalten, und wer weiß, ob sie bei der schweren Last, die sie zu tragen hat, nicht gerade deswegen vorhat, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen und Born zu heiraten: um sich wieder emporzuarbeiten, um wieder atmen zu können?
Jetzt, wo Born nicht mit im Spiel ist, findet Walker Helene ein wenig weicher und sympathischer als die Frau, die er vor einigen Tagen im Restaurant kennengelernt hat. Sie ist immer noch reserviert, hüllt sich immer noch in eine Pose von Rechtschaffenheit und Anstand, doch als sie ihn an der Tür begrüßt und ihm die Hand schüttelt, überrascht ihn die Freundlichkeit, mit der sie ihm in die Augen sieht, als sei sie über sein Kommen aufrichtig erfreut. Vielleicht hat er sich geirrt, und Cecile hat sie nicht bedrängen müssen, ihn zu sich ins Haus einzuladen. Am Ende kam der Vorschlag vielleicht doch von Helene: Was ist eigentlich mit dem seltsamen Amerikaner, mit dem du dich jetzt dauernd herumtreibst, Cecile? Willst du ihn nicht mal zum Essen einladen, damit ich ihn besser kennenlernen kann?
Auch an diesem Abend verzichtet Cecile auf ihre Brille, doch, anders als bei dem Essen im Restaurant, blinzelt sie diesmal nicht. Walker nimmt an, dass sie auf Kontaktlinsen umgestiegen ist, unterlässt es aber, sie danach zu fragen, weil das Thema sie womöglich in Verlegenheit bringen könnte. Sie wirkt ruhiger als sonst, findet er, souveräner und beherrschter, aber er vermag nicht zu sagen, ob dieses Verhalten auf eine bewusste Anstrengung ihrerseits zurückführen ist, oder ob sie sich ihm gegenüber gehemmt fühlt, wenn ihre Mutter dabei ist. Ein Gang nach dem anderen kommt auf den Tisch: als Erstes ein Pate mit Cornichons, dann ein Pot-au-feu, Endiviensalat, drei verschiedene Käse und zum Dessert Creme Caramel. Walker macht Helene zu jeder dieser Speisen ein Kompliment, aber auch wenn er jeden einzelnen Bissen aufrichtig genießt, ist ihm klar, dass ihre Kochkünste nicht mit denen Margots mithalten können. Unzählige belanglose Dinge werden diskutiert. Schule und Arbeit, das Wetter, die Unterschiede zwischen den U-Bahn-Systemen von Paris und New York. Die Unterhaltung wird deutlich munterer, als er und Cecile von Musik zu reden anfangen, und als sie die Mahlzeit beendet haben, gelingt es ihm endlich (nach wie vielen trotzigen Weigerungen?), sie zu überreden, ihm etwas vorzuspielen, das heißt ihm und ihrer Mutter. In dem Zimmer, das als Wohn- und Esszimmer dient, steht ein kleines Klavier, und als Cecile sich vom Tisch erhebt und auf das Instrument zugeht, fragt sie: Irgendetwas Bestimmtes? Bach, sagt er ohne zu zögern. Eine zweistimmige Invention von Bach.
Sie spielt gut, sie trifft alle Noten des Stücks mit verbissener Präzision, ihre Dynamik ist stetig; gewiss, ihre Phrasierung ist ein wenig mechanisch, und sie erreicht nicht ganz die Gewandtheit eines erfahrenen Profis - aber wer kann sie dafür tadeln, dass sie keine andere ist als die, die sie ist? Sie ist kein Profi. Sie ist eine achtzehnjährige Gymnasiastin, die zum eigenen Vergnügen Klavier spielt, und sie interpretiert das Stück von Bach mit viel Geschick und noch mehr Gefühl. Walker erinnert sich an seine eigenen linkischen Versuche als kleiner Junge, Klavier zu lernen, und wie enttäuscht er war, als er einsehen musste, dass er absolut kein Talent dafür besaß. Er applaudiert Ceciles Darbietung daher mit großer Begeisterung, lobt ihre Leistung und erklärt ihr, für wie gut er sie hält. Nicht wirklich gut, sagt sie mit ihrer ärgerlichen Bescheidenheit. Geht so. Doch bei dieser abfälligen Bemerkung über sich selbst zieht sie die Mundwinkel nach unten, für Walker ein Zeichen, dass sie ein
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