Unsichtbar
dachte, das hätte ich.
Ich brauche mich vor niemandem zu rechtfertigen - am allerwenigsten vor dir.
Entschuldige, ich benehme mich wie ein Idiot. Die Frage wird zurückgezogen.
Wenn du's unbedingt wissen willst, ich besuche meine Schwester. Sie ist mit einem Engländer verheiratet und lebt in Hampstead. Ihr kleiner Sohn wird drei, und ich bin zu der Geburtstagsparty eingeladen. Im Übrigen - nur um das Bild zu vervollständigen - begleitet mich meine Mutter.
Kann ich dich vor der Abreise noch sehen?
Wir fahren in einer Stunde zum Flughafen.
Schade. Du wirst mir fehlen. Sehr, sehr fehlen.
Sind doch nur acht Tage. Reiß dich zusammen, Junge. Ehe du dich versiehst, bin ich wieder da.
Nach dem entmutigenden Gespräch mit Margot geht er in sein Hotelzimmer zurück und bläst stundenlang Trübsal, unfähig, die Kraft aufzubringen, sich an den Tisch zu setzen und zu arbeiten, unfähig, sich auf das Buch zu konzentrieren, das er zu lesen versucht (Georges Perecs Les Choses. Une histoire des annees soixante), und binnen kurzem denkt er wieder an Cecile, die heute ihren ersten Schultag nach den Ferien hat und nicht weit von ihm in einem Klassenzimmer im Lycee Fenelon sitzt, vielleicht gerade jetzt einem Lehrer zuhört, der Molieres Prosodie erklärt, und dabei an ihrem Etui mit den frisch gespitzten Bleistiften herumspielt. Er wird ihr fürs Erste aus dem Weg gehen, sagt er sich, und wenn in acht Tagen (genau am Tag von Margots Rückkehr) seine Vorlesungen beginnen, hat er ohnehin einen guten Vorwand, sich seltener mit ihr zu treffen, und wenn sie insgesamt weniger Zeit miteinander verbringen, kühlt ihre Liebe zu ihm vermutlich ohnehin von selbst ab.
Die nächsten drei Tage hält er eisern an dieser Schweigetaktik fest. Er sieht niemanden, spricht mit niemandem, und nach und nach beginnt er sich in seiner Einsamkeit stärker zu fühlen, als hätten die selbst auferlegten Beschränkungen ihn in gewisser Weise veredelt, ihn wieder mit der Person bekannt gemacht, die zu sein er sich früher immer vorgestellt hatte. Er schreibt zwei kurze Gedichte, die vielleicht gar nicht mal so schlecht sind (niemals nichts als den Traum von Nichts / niemals etwas als den Traum von Allem), verbringt einen ganzen Nachmittag mit der Niederschrift seiner Gedanken über die Auferstehungsszene in Dreyers Film und schildert Gwyn in einem langen, überschwänglichen Brief die Launen des Himmels über Paris jenseits der Fenster seines Zimmers: Wer hier lebt, wird zum Wolkenkenner, zum Meteorologen von Kapricen. Dann, am vierten Tag, ist er gerade aufgewacht, hat auf der Kochplatte neben seinem Bett Wasser erhitzt und sich eine Tasse bitteren Pulverkaffees aufgebrüht, und als er die ersten Schlucke nimmt, klopft es an die Tür.
Noch benommen, von der Bettwärme benebelt, schlüpft der zerzauste unbekleidete Walker in eine Hose und tappt auf Zehenspitzen zur Tür, vorsichtig, um sich keine Splitter von den brüchigen Bodenbrettern in die nackten Füße zu treten. Wieder nimmt er an, es ist Maurice, und wieder liegt er falsch, aber da er nun einmal denkt, es sei Maurice, fragt er nicht erst nach, wer da ist.
Vor ihm steht Cecile. Sie ist angespannt, beißt sich auf die Unterlippe, und sie zittert, als ob kleine Stromstöße durch ihren Körper gingen, als ob sie jeden Augenblick abheben würde.
Walker sagt: Solltest du nicht in der Schule sein?
Vergiss die Schule, antwortet sie und tritt über die Schwelle, noch bevor er sie hereinbitten kann. Das hier ist wichtiger als die Schule.
Na schön, also wichtiger als die Schule. Inwiefern?
Du hast mich seit dem Essen bei uns zu Hause nicht mehr angerufen. Was war denn los?
Nichts. Ich hatte zu tun, das ist alles. Und ich dachte, du hast auch zu tun. Diese Woche hat dein Unterricht wieder angefangen, da musst du doch jede Menge Hausaufgaben haben. Ich wollte dir ein paar Tage Zeit lassen, dich wieder daran zu gewöhnen.
Das stimmt nicht. Das stimmt überhaupt nicht. Meine Mutter hat mit dir geredet, deshalb bist du jetzt so. Meine blöde Mutter hat mit dir geredet und dir Angst gemacht. Nur zu deiner Information, meine Mutter hat keine Ahnung von mir. Ich kann ganz gut allein auf mich aufpassen.
Immer mit der Ruhe, Cecile, sagt Walker, hebt den rech ten Arm und streckt ihr die offene Handfläche entgegen - die Pose eines Polizisten, der den Verkehr regelt. Ich bin erst vor ungefähr drei Minuten aufgewacht, fährt er fort, und ich versuche noch die Spinnweben aus meinem Kopf zu schütteln.
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