Unsichtbar
Kaffee. Ich war gerade dabei, Kaffee zu trinken. Möchtest du vielleicht auch einen?
Ich mag keinen Kaffee. Das weißt du doch.
Tee?
Nein, danke.
Na schön. Kein Kaffee, kein Tee. Aber setz dich. Du machst mich nervös.
Er zeigt auf den Stuhl an seinem Schreibtisch, geht hin und zieht den Stuhl für sie heraus, und als Cecile sich darauf zubewegt, nimmt er seinen Kaffeebecher und trägt ihn zum Bett. Er setzt sich im selben Moment auf die durchhängende, u-förmige Matratze, als sie sich auf dem knarrenden Stuhl niederlässt. Aus irgendeinem Grund findet er das komisch. Er nimmt einen Schluck des nicht mehr heißen Kaffees und lächelt ihr zu, in der Hoffnung, dass ihr simultanes Platznehmen für sie nicht weniger komisch ist als für ihn, aber sie kann jetzt gar nichts komisch finden und lächelt nicht zurück.
Deine Mutter, sagt er. Ja, sie hat mit mir geredet. Als du aus dem Zimmer gegangen bist, nachdem du uns auf dem Klavier etwas vorgespielt hattest, und die ganze Unterhaltung hat ungefähr fünfzehn oder zwanzig Sekunden gedauert. Sie hat geredet, ich habe zugehört, aber sie hat mir nicht Angst gemacht.
Nein?
Natürlich nicht. Bist du sicher?
Absolut.
Warum hast du dich dann so zurückgezogen?
Ich habe mich nicht zurückgezogen. Ich hatte vor, dich am Samstag oder Sonntag anzurufen. Wirklich?
Ja, wirklich. Hör jetzt auf damit. Keine Fragen mehr, ja? Keine Zweifel. Ich bin dein Freund, und ich möchte dein Freund bleiben. Nur - Es reicht. Ich möchte dein Freund bleiben, Cecile, aber das geht nur, wenn du mir vertraust.
Dir vertrauen? Was redest du da? Natürlich vertraue ich dir.
Das glaube ich kaum. Wir haben in letzter Zeit viele Stunden miteinander verbracht und über alles Mögliche gesprochen - Bücher und Philosophie, Kunst und Musik, Filme, Politik, sogar über Schuhe und Hüte -, aber kein einziges Mal hast du mir irgendetwas von dir selbst erzählt. Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich kenne mich mit Katastrophen aus. Ich weiß, was in Familien geschieht, wenn etwas schiefgeht. Als ich dir kürzlich erzählt habe, was mit meinem Bruder Andy passiert ist, dachte ich, das könnte dich vielleicht zum Reden bringen, aber du hast kein Wort gesagt. Ich weiß von dem Unfall deines Vaters, Cecile, ich weiß von der Hölle, die du und deine Mutter seit Jahren erlebt, ich weiß von der Scheidung, ich weiß von den Heiratsplänen deiner Mutter. Warum sprichst du nicht mit mir über diese Dinge? Dafür sind Freunde doch da. Um ihr Leid zu teilen, um einander zu helfen.
Das kann ich nicht, sagt sie und senkt den Blick auf ihre Finger. Deswegen bin ich ja so glücklich, wenn ich mit dir zusammen bin. Weil ich dann nicht an diese Dinge zu denken brauche, weil ich dann vergessen kann, wie schrecklich die Welt ist...
Sie redet immer noch, aber er hört ihr nicht mehr zu, achtet nicht mehr auf sie, weil ihm plötzlich eine Idee gekommen ist und er sich fragt, ob dies nicht der Augenblick sein könnte, ihr die Geschichte zu erzählen, die Geschichte von Born und Cedric Williams, von dem Mord an Cedric Williams, der richtige Augenblick, weil er sie soeben seiner Freundschaft versichert hat, was sie empfänglich genug machen könnte, ihm relativ ruhig zuzuhören, die Schilderung von Borns grausamer Tat aufzunehmen, ohne irreparablen Schaden zu erleiden, sie, dieses zerbrechliche Geschöpf, wie ihre Mutter sie genannt hat, dieses zitternde, nägelkauende Geschöpf, die verletzliche Cecile, die gleichwohl den Sommer damit verbracht hat, ein Gedicht zu übersetzen, in dem es von brutaler Gewalt und albtraumhaftem Schrecken dermaßen brodelt, dass er selbst schockiert war von Kassandras himmelschreiender Klage über das Zerfetzen von Monsterhündinnen, das Niederbrennen von Städten und das Schlachten der eigenen Kinder, und dabei ist all das im Reich des Mythos angesiedelt, imaginäre Gewalt vergangener Zeiten, wohingegen Born ein realer Mensch ist, ein lebender, sehr lebendiger Mensch, den sie ihr Leben lang kennt, der Mann, der ihre Mutter heiraten will, und ob sie für oder gegen diese Heirat ist, wie wird sie es aufnehmen, wenn sie erfährt, wozu dieser Mann fähig ist, wenn er ihr von der mörderischen Attacke erzählt, deren Augenzeuge er war, und noch während er denkt, dass jetzt die Zeit gekommen ist, ihr von diesem Frühlingsabend in New York zu berichten, zögert er, kann sich nicht dazu überwinden, das zu tun, muss es nicht tun, wird es nicht tun, und komme, was da wolle, er wird Cecile
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