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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Boston. Es war grausam, ihr das anzutun, aber mir blieb gar nichts anderes mehr übrig. Sie wollte das Buch ihres Bruders lesen, und das einzige Exemplar davon gehörte mir.
    Zwei Tage später rief sie an. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ich war davon ausgegangen, dass sie heftige Gefühle zeigen würde - Tränen der Wut, Drohungen, Scham darüber, dass ihr Geheimnis ans Licht gezerrt worden war. Doch Gwyn wirkte unnatürlich gedrückt, eher betäubt als beleidigt, schien mir, als habe das Buch sie in einen Zustand verwirrter Fassungslosigkeit versetzt.
    Ich verstehe das nicht, sagte sie. Das meiste ist so genau geschildert, so präzise und zutreffend, und dann sind da all diese Sachen, die er sich ausgedacht hat. Das ergibt doch gar keinen Sinn.
    Was für Sachen?, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was sie meinte.
    Ich habe meinen Bruder geliebt, Jim. Als ich jung war, war er mir näher als jeder andere. Aber ich habe nie mit ihm geschlafen. Das große Experiment hat es nie gegeben. Die inzestuöse Affäre im Sommer 1967 hat es nicht gegeben. Ja, wir haben zwei Monate lang zusammen in dieser Wohnung gelebt, aber wir hatten getrennte Schlafzimmer, und von Sex war nie die Rede. Was Adam da schreibt, ist reine Erfindung.
    Es steht mir wahrscheinlich nicht zu, das zu fragen, aber warum hätte er das tun sollen? Besonders, wenn die anderen Teile der Geschichte stimmen.
    Ich kann nicht beurteilen, ob die stimmen. Zumindest kann ich nicht bestätigen, dass sie stimmen. Aber all diese anderen Dinge passen zu dem, was Adam mir damals, vor vierzig Jahren, erzählt hat. Ich habe Born, Margot, Cecile oder Helene niemals kennengelernt. Ich war in jenem Frühling nicht bei Adam in New York. Ich war in jenem Herbst nicht bei ihm in Paris. Aber er hat mir von diesen Leuten erzählt, und alles, was er 1967 über diese Leute gesagt hat, stimmt mit dem überein, was er in dem Buch berichtet.
    Umso merkwürdiger dann, dass er diese Dinge über dich erfunden haben soll.
    Ich weiß, dass du mir nicht glaubst. Ich weiß, du denkst, ich versuche, mich nur zu schützen, ich möchte nicht zugeben, dass so etwas zwischen uns passiert sein kann. Aber so war es einfach nicht, ich schwör's dir. Ich denke jetzt seit vierundzwanzig Stunden darüber nach, und mir ist nur eine einzige Erklärung dafür eingefallen: Das sind die Phantasien eines Sterbenden, ein Traum; er hat sich gewünscht, dass es so war, aber so war es nicht.
    Gewünscht?
    Ja, gewünscht. Ich bestreite nicht, dass solche Gefühle in der Luft lagen, aber ich hatte kein Interesse daran, sie in die Tat umzusetzen. Adam hat zu sehr an mir gehangen, Jim. Und diese Zuneigung war nicht ungefährlich; nachdem wir in diesem Sommer eine Zeitlang zusammengelebt hatten, fing er an, mir zu erzählen, ich hätte ihn für andere Frauen verdorben, ich sei die einzige Frau, die er lieben könne, und wenn wir nicht Bruder und Schwester wären, würde er mich auf der Stelle heiraten. Das sagte er natürlich wie im Scherz, aber es gefiel mir nicht. Um ganz ehrlich zu sein, ich war erleichtert, als er nach Paris aufbrach.
    Interessant.
    Und wie wir beide wissen, war er keinen Monat später schon wieder zurück - mit Schimpf und Schande rausgeschmissen, wie er es mir damals erklärte. Aber ich hatte inzwischen einen anderen Mitbewohner, und Adam musste sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. Wir waren immer noch Freunde, sehr gute Freunde, aber ich wollte jetzt doch ein wenig Abstand zwischen uns bringen, zu seinem Besten von ihm abrücken. Du hast ihn in deinen letzten beiden Jahren am College oft gesehen, aber wie oft hast du ihn mit mir zusammen gesehen?
    Ich versuche mich zu erinnern ... Nicht oft. Nur ein paarmal.
    Also bitte.
    Und was wird jetzt aus dem Buch? Schließen wir es weg und vergessen die ganze Sache?
    Nicht unbedingt. In seiner gegenwärtigen Form kann es nicht veröffentlicht werden. Es erzählt nicht die Wahrheit - in Teilen zumindest -, und wenn diese Unwahrheiten jemals ans Licht der Öffentlichkeit kommen, wird das für unzählige Leute ein furchtbares Unglück sein. Ich bin eine verheiratete Frau, Jim. Ich habe zwei Töchter und drei Enkel, Dutzende Verwandte, Hunderte Freunde, eine Stiefnichte, die ich sehr gern habe, und es wäre ein Verbrechen, das Buch in seiner gegenwärtigen Form zu veröffentlichen. Sind wir uns einig?
    Ja, ja. Wie sollte ich dir widersprechen?
    Andererseits hat das Buch mich sehr bewegt. Es hat mir meinen Bruder auf eine Weise

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