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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der Columbia abzuschließen gedachte. Zwei Wochen später erblickte ich sie zum ersten Mal auf dem Campus. Sie ging gerade auf dem Weg zur Philosophy Hall an Rodins Denker-Statue vorbei, eine junge Frau, die Walker fast schon unheimlich ähnlich sah, sodass ich nicht daran zweifelte, dass es sich um seine Schwester handelte. Ich habe schon erwähnt, wie schön sie war, aber das wird dem überwältigenden Eindruck nicht gerecht, den sie auf mich machte. Gwyn strahlte vor Schönheit, sie leuchtete und loderte, entfachte einen Sturm im Herzen jedes Mannes, der ihrer ansichtig wurde, und der Augenblick, da ich sie zum ersten Mal sah, zählt zu den erstaunlichsten meines ganzen Lebens. Ich wollte sie - von der ersten Sekunde an wollte ich sie -, und mit dem leidenschaftlichen Starrsinn eines vernarrten Schwärmers heftete ich mich an ihre Fersen.
    Es wurde nichts daraus. Ich lernte sie ein wenig kennen, traf mich ein paarmal mit ihr zum Kaffee, lud sie ins Kino ein (sie lehnte ab), lud sie ins Konzert ein (sie lehnte ab), und einmal begegneten wir uns zufällig in einem großen Chinarestaurant und sprachen eine halbe Stunde lang über die Gedichte von Emily Dickinson. Kurz darauf überredete ich sie zu einem Spaziergang im Riverside Park, versuchte sie zu küssen und wurde weggestoßen. Nein, Jim, sagte sie. Es gibt da schon jemand anderen. Ich kann das nicht machen.
    Und das war's. Ein paar Versuche, ein paar Fehlschläge, und das Spiel war vorbei. Die Welt brach in Stücke, die Brüche heilten, und ich wurstelte weiter. Zu meinem großen Glück bin ich seit nun fast dreißig Jahren mit ein und derselben Frau zusammen. Ein Leben ohne sie kann ich mir nicht vorstellen, und doch muss ich gestehen, dass ich, wann immer die Erinnerung an Gwyn mir durch den Kopf geht, einen kleinen Stich empfinde. Sie war die Unmögliche, die Unerreichbare, die nie Vorhandene - ein Gespenst aus dem Land der Träume.
    Ein unsichtbares Amerika lag schweigend in der Dunkelheit unter mir. Als ich im Flugzeug von San Francisco nach New York über die schlechten alten Zeiten von 1967 nachdachte, wurde mir klar, am nächsten Morgen musste ich ihr schreiben und mein Beileid bekunden.

    Wie sich herausstellte, hatte Gwyn sich bereits gemeldet. Als ich mein Haus in Brooklyn betrat, empfing meine Frau mich mit einer warmen, innigen Umarmung (ich hatte sie aus San Francisco angerufen, sie wusste, dass Adam tot war) und erzählte mir dann, jemand habe eine Nachricht für mich auf den Anrufbeantworter gesprochen, eine Frau namens Gwyn Tedesco.
    Ist das die Gwyn, an die ich jetzt denke?, fragte sie.
    Um zehn Uhr am nächsten Morgen rief ich sie an. Eigentlich hatte ich ihr schreiben wollen, meine Gefühle auf Papier niederlegen und ihr etwas mehr als die nichtssagenden Plattitüden geben wollen, die wir bei solchen Gelegenheiten hervorstottern, aber auf dem Anrufbeantworter erklärte sie so eindringlich, sie habe eine wichtige Sache mit mir zu besprechen, dass ich zurückrief und den Brief ungeschrieben ließ.
    Ihre Stimme war noch dieselbe, bemerkenswert dieselbe, die mich vor vierzig Jahren so fasziniert hatte. Lebhafter Ernst, kristallklare Aussprache, ein kaum wahrnehmbarer Hauch des mittelatlantischen Akzents ihrer Kindheit. Die Stimme war dieselbe, aber Gwyn selbst war nicht mehr dieselbe, und im Lauf unseres Gesprächs malte ich mir verschiedene Bilder von ihr aus, versuchte mir vorzustellen, wie gut oder schlecht es ihrem schönen Gesicht in all dieser Zeit ergangen sein mochte. Sie war jetzt einundsechzig, und plötzlich erkannte ich, dass mir nichts daran lag, sie wiederzusehen. Das konnte nur zu Enttäuschung führen, und ich wollte mir meine nebelhaften Erinnerungen an die Vergangenheit nicht von den harten Tatsachen der Gegenwart zerstören lassen.
    Wir tauschten die üblichen Gemeinplätze aus, einige Minuten lang drehte sich unser Gespräch um Adam und seinen Tod, um ihre Schwierigkeiten, das Geschehene zu akzeptieren, um die grausamen Schläge, die das Leben uns versetzt. Dann erzählten wir ein wenig von uns, von unseren Ehen, unseren Kindern, unserer Arbeit - ein zwangloses Hin und Her, so freundlich auf beiden Seiten, dass ich sogar den Mut aufbrachte, sie zu fragen, ob sie sich an den Tag im Riverside Park erinnere, an dem ich sie zu küssen versucht hatte. Natürlich erinnere sie sich daran, sagte sie und musste zum ersten Mal lachen, aber wie hätte sie damals wissen können, dass dieser Jim, der dürre Student, einmal zu dem großen

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