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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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James Freeman heranwachsen sollte? Ich bin nie erwachsen geworden, sagte ich. Ich bin immer noch Jim, nur Jim. Nicht mehr so dürr, aber immer noch nur Jim.
    Ja, es war alles recht liebenswürdig, und obwohl wir jahrzehntelang nichts miteinander zu tun gehabt hatten, sprach Gwyn mit mir, als sei wenig oder gar keine Zeit vergangen, als seien diese Jahrzehnte in Wirklichkeit nur ein paar Monate gewesen. Die Vertraulichkeit ihres Tonfalls lullte mich ein, verführte mich zu allzu großer Offenheit, und als sie schließlich auf ihr Anliegen zu sprechen kam, das heißt, als sie mir schließlich den Grund ihres Anrufs erklärte, machte ich einen entsetzlichen Fehler. Ich sagte ihr die Wahrheit, wo ich hätte lügen sollen.
    Adam hat mir eine E-Mail geschickt, sagte sie, eine lange E-Mail, wenige Tage bevor er... nur wenige Tage vor dem Ende. Es war ein sehr schöner Brief, ein Abschiedsbrief, wie ich jetzt weiß, und in einem der letzten Absätze erwähnte er, dass er an etwas schreibe, an einem Buch, und wenn ich es lesen wolle, solle ich mich an dich wenden. Aber erst nach seinem Tod. Das betonte er ausdrücklich. Erst nach seinem Tod. Er warnte mich zudem, dass ich das Manuskript außerordentlich verstörend finden könnte. Er entschuldigte sich schon im Voraus dafür und bat mich, ihm zu vergeben, falls das Buch mich in irgendeiner Weise verletzen sollte, und dann sagte er: nein, ich solle es gar nicht erst lesen, ich solle die ganze Sache vergessen. Das sei einfach zu verwirrend. Gleich im nächsten Satz widerrief er das wieder und sagte, ich solle es lesen, wenn ich wolle, ich hätte ein Recht darauf, und wenn ich es mir ansehen wolle, solle ich mich an dich wenden, denn du hättest das einzige Exemplar. Das habe ich nicht ganz verstanden. Wenn er das Buch am Computer geschrieben hat, musste es dann nicht auf seiner Festplatte gespeichert sein?
    Er hat Rebecca aufgetragen, es zu löschen, sagte ich. Es ist jetzt nicht mehr auf dem Computer, und das einzige Exemplar ist der Ausdruck, den er mir geschickt hat.
    Also gibt es das Buch wirklich.
    Gewissermaßen. Er hatte vor, es in drei Kapiteln zu schreiben. Die ersten beiden sind mehr oder weniger fertig, aber das dritte hat er nicht mehr vollenden können. Dazu gibt es nur Notizen, einen hastig geschriebenen Entwurf.
    Wollte er, dass du ihm hilfst, es zu veröffentlichen?
    Von veröffentlichen hat er nie gesprochen, jedenfalls nicht direkt. Er wollte nur, dass ich das Manuskript lese, und dann sollte mir die Entscheidung überlassen bleiben, was damit zu geschehen habe.
    Und hast du dich entschieden?
    Nein. Ehrlich gesagt habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Bis du jetzt eben etwas von veröffentlichen gesagt hast, ist mir das noch nie in den Sinn gekommen.
    Ich denke, ich sollte mir das mal ansehen, oder?
    Da bin ich mir nicht sicher. Das musst du selbst wissen, Gwyn. Wenn du es lesen willst, mache ich dir eine Kopie und schicke sie dir noch heute mit FedEx zu.
    Wird es mich verstören?
    Wahrscheinlich.
    Wahrscheinlich?
    Nicht das Ganze, aber ein oder zwei Dinge darin könnten dich verstören, ja.
    Ein oder zwei Dinge. O Gott.
    Keine Sorge. Von jetzt an lege ich die Entscheidung in deine Hände. Kein Wort von Adams Buch soll jemals ohne dein Einverständnis veröffentlicht werden.
    Schick es mir, Jim. Schick es mir noch heute. Ich bin jetzt ein großes Mädchen, und ich weiß, wie ich meine Medizin zu schlucken habe.

    Wie einfach wäre es gewesen, mich bedeckt zu halten und die Existenz des Buchs abzustreiten oder ihr zu sagen, ich hätte es verloren, oder zu behaupten, Adam habe versprochen, es mir zu schicken, das aber nicht getan. Sie hatte mich mit dem Thema überrumpelt, und ich hatte nicht schnell genug mit einem Märchen darauf reagiert. Schlimmer noch, ich hatte Gwyn erzählt, das Buch habe drei Kapitel. Nur das zweite war dazu geeignet, sie zu verletzen (dazu ein paar Bemerkungen im dritten, die ich mühelos hätte streichen können), und wenn ich gesagt hätte, Adam habe nur zwei Kapitel geschrieben, Frühling und Herbst, wäre es ihr erspart geblieben, in die Wohnung an der 107th Street zurückzukehren und die Ereignisse jenes Sommers noch einmal zu durchleben. Aber jetzt erwartete sie drei Kapitel, und wenn ich ihr nur zwei schickte, würde sie sofort anrufen und die fehlenden Seiten verlangen. Also fotokopierte ich alles, was ich hatte - Frühling, Sommer und die Notizen zu Herbst -, und schickte es noch am selben Nachmittag an ihre Adresse in

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