Unsichtbar
unbekannt an mich zurück.
Ja, ich will mich gern mit Ihnen treffen, wenn Sie nächsten Monat nach Paris kommen. Aber ich muss Sie warnen. Ich bin eine törichte alte Frau, die ihre Gefühle ganz und gar nicht mehr in ihrer Gewalt hat. Wenn wir über Adam reden (und das werden wir ja wohl), stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich in Tränen ausbrechen werde. Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen.
Achtundfünfzig war natürlich kein Alter, und ich bezweifelte, dass irgendetwas an Cecile Juin als töricht bezeichnet werden konnte. Ihren Sinn für Humor hatte sich diese Frau also offenbar bewahrt, und so erfolgreich sie in der engbegrenzten Welt der akademischen Forschung sein mochte, musste ihr klar sein, wie eigenartig das Leben war, für das sie sich entschieden hatte: abgesondert in den Lesezimmern von Bibliotheken und unterirdischen Tresorräumen, immer nur über Manuskripten von Toten brüten, eine Karriere im lautlosen Reich des Staubs. In einem PS zu ihrem Brief ließ sie erkennen, mit welchem Sarkasmus sie ihre Arbeit betrachtete. Sie kenne meinen Namen, schrieb sie, und für den Fall, dass ich der James Freeman sei, für den sie mich halte, wolle sie wissen, ob ich bereit sei, mich an einer Umfrage zu beteiligen, die sie und ihre Mitarbeiter über die Schreibmethoden zeitgenössischer Autoren durchführten. Computer oder Schreibmaschine, Bleistift oder Füller, Notizbuch oder loses Papier; wie viele Entwürfe bis zum fertigen Buch. Ja, ich weiß, fügte sie hinzu, höchst langweiliges Zeug. Aber das ist unser Job beim CNRS: die Welt so langweilig wie möglich zu machen.
Aus ihrem Brief sprach Selbstironie, aber auch Schmerz, und ich war ein wenig verblüfft, wie lebhaft sie sich an Walker erinnerte. Sie hatte ihn in den fernen Tagen ihrer Jugend nur ein paar Wochen lang gekannt, und doch muss ihre Freundschaft etwas in ihr aufgeschlossen haben, das ihr Selbstbild verändert und sie zum ersten Mal mit dem Innersten ihres Herzens konfrontiert hatte. Ich habe ihn nie vergessen. Er war die erste Liebe meines Lebens. Auf ein so unverblümtes Bekenntnis war ich nicht gefasst gewesen. Walkers Notizen beschäftigten sich mit dem Problem ihrer Schwärmerei für ihn, aber nun zeigte sich, dass ihre Gefühle sogar noch intensiver gewesen waren, als er sich vorgestellt hatte. Und dann hatte sie ihm ins Gesicht gespuckt. Damals muss sie geglaubt haben, ihr Zorn sei berechtigt. Er hatte Born verleumdet, er hatte ihre Mutter beunruhigt, und Cecile hatte sich verraten gefühlt. Dann aber, nicht lange danach, hatte sie ihn in einem Brief um Verzeihung gebeten. Hieß das, dass sie ihre Haltung überdacht hatte? War etwas passiert, das Walkers Beschuldigungen in ein neues Licht gestellt hatte? Diese Frage wollte ich ihr als Erstes stellen.
Meine Frau und ich buchten ein Zimmer im Hotel d'Aubusson in der rue Dauphine. Wir waren dort zwar schon einmal gewesen, hatten dann im Lauf der Jahre in verschiedenen anderen Hotels in Paris gewohnt, aber diesmal wollte ich in die rue Dauphine zurück, weil die Straße zufällig genau in der Mitte des Viertels lag, in dem Walker 1967 gelebt hatte. Das Hotel du Sud mochte es nicht mehr geben, aber viele andere Lokalitäten, die er damals besucht hatte, existierten noch. Das Vagenende war noch da. La Palette und das Cafe Conti waren noch im Geschäft, und auch die Mensa in der rue Mazet versorgte immer noch hungrige Studenten mit ungenießbarem Essen. So viel hatte sich in den vergangenen vierzig Jahren verändert, die einst völlig heruntergekommene Gegend hatte sich zu einem der elegantesten Viertel von Paris entwickelt, aber die meisten der in Walkers Geschichte erwähnten Orte hatten überlebt. Nachdem wir am ersten Morgen im Hotel eingecheckt hatten, brachen meine Frau und ich gleich auf und zogen ein paar Stunden lang durch die Straßen. Jedes Mal, wenn ich sie auf eine dieser Lokalitäten hinwies, drückte sie meine Hand und stieß ein leises sarkastisches Grunzen aus. Du bist unverbesserlich, sagte sie schließlich. Ganz und gar nicht, antwortete ich. Ich will nur die Atmosphäre in mich aufsaugen ... mich auf morgen vorbereiten.
Am nächsten Nachmittag um vier Uhr erschien Cecile Juin in der Hotelbar, ein kleines Ledertäschchen unter den linken Arm geklemmt. Wenn man von Walkers Beschreibung ihrer Gestalt in den Herbst-Notizen ausging, musste sie seit 1967 enorm in die Breite gegangen sein. Aus dem dünnen, schmalschultrigen achtzehnjährigen Mädchen war eine rundliche,
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