Unsichtbar
noch in mir fort. Ich bin dort hingegangen, weil ich wütend auf ihn war. Das war an einem Vormittag, ziemlich früh. Ich habe die Schule geschwänzt und bin zu dem Hotel gegangen. Bin die wacklige Treppe hochgestiegen, habe bei ihm angeklopft. Ich hätte ihn erwürgen können, so wütend war ich, so verliebt war ich. Ich war ein dummes kleines Mädchen, Sie verstehen schon, ein unmögliches, unsympathisches Mädchen, ein schwachsinniges, einfältiges Mädchen mit einer Brille auf der Nase, todunglücklich und zitternd vor Angst, und ich besaß die Frechheit, mich in einen Jungen wie Adam zu verlieben - der perfekte Adam, warum in Gottes Namen hat er sich überhaupt dazu herabgelassen, mit mir zu reden? Er ließ mich rein. Er beruhigte mich. Er war freundlich zu mir, sehr freundlich, mein Leben lag in seiner Hand, und er war freundlich zu mir. Da hätte ich erkennen müssen, was für ein guter Mensch er war. Niemals hätte ich an seinen Worten zweifeln dürfen. Adam. Ich träumte davon, ihn zu küssen. Das war alles, was ich mir ersehnte - von Adam geküsst zu werden, mich Adam hinzugeben -, aber die Zeit lief mir davon, und wir haben uns nicht geküsst, uns nicht berührt, und dann war er auch schon verschwunden.
Das war der Moment, in dem Cecile in Tränen ausbrach. Es dauerte zwei oder drei Minuten, ehe sie wieder sprechen konnte, und als sie es dann tat, stieß das Erste, was sie sagte, die Tür zur nächsten Phase unserer Unterhaltung auf. Entschuldigung, murmelte sie. Ich fasle hier herum wie eine Verrückte. Sie können ja gar nicht wissen, wovon ich rede.
Doch, sagte ich. Ich weiß genau, wovon Sie reden.
Aber das kann nicht sein.
Glauben Sie mir, ich weiß es. Sie waren wütend auf Adam, weil er Sie tagelang nicht angerufen hatte. An dem Abend, bevor Sie wieder zur Schule mussten, war er bei Ihnen und Ihrer Mutter in der rue de Verneuil zum Essen eingeladen. Nach dem Dessert haben Sie ihm etwas auf dem Klavier vorgespielt - eine zweistimmige Invention von Bach -, und dann gingen Sie kurz aus dem Zimmer, und Ihre Mutter nutzte die Gelegenheit, mit Adam unter vier Augen zu sprechen, und was sie ihm sagte, hat ihm, mit Ihren Worten, Angst gemacht.
Hat er Ihnen das erzählt?
Nein, er hat es mir nicht erzählt. Aber er hat darüber geschrieben, und ich habe gelesen, was er geschrieben hat.
Er hat Ihnen einen Brief geschickt?
Es war eher ein kurzer Roman. Der Versuch, ein Buch zu schreiben. Er hat die letzten Monate seines Lebens damit verbracht, seine Erinnerungen aus dem Jahr 1967 aufzuzeichnen. Das war ein wichtiges Jahr für ihn.
Ja, ein sehr wichtiges Jahr. Ich glaube, ich fange an, das zu begreifen.
Wenn es Adams Manuskript nicht gäbe, hätte ich niemals von Ihnen gehört.
Und jetzt wollen Sie herausfinden, was geschehen ist, richtig?
Ich verstehe allmählich, warum Adam Sie für so klug gehalten hat. Sie begreifen ziemlich schnell, oder?
Cecile steckte sich lächelnd die nächste Zigarette an. Offenbar bin ich im Nachteil, sagte sie.
Inwiefern?
Sie wissen viel mehr über mich als ich über Sie.
Nur über Sie als Achtzehnjährige. Ansonsten weiß ich absolut nichts. Ich habe nach Born gesucht, ich habe nach Margot Jouffroy gesucht, ich habe nach Ihrer Mutter gesucht, aber Sie waren die Einzige, die ich finden konnte.
Weil die anderen alle tot sind.
Oh. Wie furchtbar. Das tut mir sehr leid ... besonders wegen Ihrer Mutter.
Sie ist vor sechs Jahren gestorben. Im Oktober - morgen vor sechs Jahren. Einen Monat nach den Angriffen in New York und Washington. Sie hatte schon seit längerem Probleme mit dem Herzen, und eines Tages ist es einfach stehengeblieben. Sie war sechsundsiebzig. Ich hätte mir gewünscht, dass sie hundert wird, aber Sie wissen ja selbst, wie selten unsere Wünsche in Erfüllung gehen. Und Margot?
Die habe ich kaum gekannt. Soweit ich weiß, hat sie sich umgebracht. Das ist schon sehr lange her - irgendwann in den Siebzigern.
Und Born?
Voriges Jahr. Glaube ich. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Es könnte auch sein, dass er noch irgendwo lebt.
Waren er und Ihre Mutter bis zu ihrem Tod verheiratet?
Verheiratet? Die beiden waren nicht verheiratet.
Nicht verheiratet? Aber ich dachte -
Sie haben eine Zeitlang davon gesprochen, aber es ist nie dazu gekommen.
War das Adams Schuld?
Teilweise, nehme ich an, aber nicht ausschließlich. Als er mit meiner Mutter sprach und diese wüsten Beschuldigungen gegen Rudolf erhob, glaubte sie ihm nicht. Ich übrigens auch
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