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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nicht.
    Sie waren so aufgebracht, dass Sie ihm ins Gesicht gespuckt haben, richtig?
    Ja, ich habe ihm ins Gesicht gespuckt. Das war das Allerschlimmste, was ich in meinem ganzen Leben getan habe. Ich habe mir das bis heute nicht verziehen.
    Sie haben Adam geschrieben und um Verzeihung gebeten. Heißt das, dass Sie Ihre Meinung über seine Geschichte geändert hatten?
    Nein, damals noch nicht. Ich habe ihm geschrieben, weil ich mich schämte für das, was ich getan hatte, und weil er wissen sollte, wie schlecht ich mich deswegen fühlte. Ich wollte mit ihm persönlich reden, aber als ich endlich den Mut aufgebracht hatte, in seinem Hotel anzurufen, war er schon nicht mehr da. Man sagte mir, er sei nach Amerika zurückgegangen. Ich konnte das nicht begreifen. Warum war er so plötzlich abgereist? Die einzige Erklärung für mich war, dass ihn mein Verhalten so durcheinandergebracht hatte, dass er die Vorstellung, in Paris zu bleiben, nicht ertragen konnte. Wenn das keine egoistische Deutung der Ereignisse ist? Ich bat Rudolf, mit dem Leiter des Columbia-Austauschprogramms zu sprechen und herauszufinden, was geschehen war, und er berichtete mir dann, Adam sei gegangen, weil er mit den Vorlesungen, die ihm zur Auswahl standen, unzufrieden war. Das kam mir so lahm vor, dass ich es keine Sekunde lang geglaubt habe. Ich blieb bei meiner Überzeugung, dass er meinetwegen gegangen war.
    Heute wissen Sie es besser?
    Ja, allerdings. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich die Wahrheit erfahren habe.
    Jahre. Das heißt, Adams Geschichte hatte keine Auswirkung auf die Entscheidung Ihrer Mutter.
    Das würde ich nicht sagen. Als Adam verschwunden war, konnte Rudolf gar nicht aufhören, von ihm zu reden. Immerhin hatte er ihn des Mordes beschuldigt, und er war empört, geradezu außer sich und zog wochenlang wütend über Adam her. Man müsste ihn für zwanzig Jahre ins Gefängnis stecken, sagte er. Man sollte ihn am nächsten Laternenpfahl aufhängen. Man sollte ihn auf die Teufelsinsel verbannen. Das war alles so überzogen, so maßlos übertrieben, dass meine Mutter sich ein wenig über ihn zu ärgern begann. Sie kannte Rudolf nun schon lange, seit vielen Jahren, fast so lange, wie sie meinen Vater gekannt hatte, und die meiste Zeit war er außerordentlich freundlich zu ihr gewesen - aufmerksam, rücksichtsvoll, liebenswürdig. Natürlich ist er manchmal aus der Haut gefahren, besonders wenn es um Politik ging, aber dann ging es eben um Politik, nicht um Persönliches. Jetzt tobte er nur noch, und in dieser Zeit werden ihr Zweifel an ihm gekommen sein. War sie wirklich bereit, den Rest ihres Lebens mit einem Mann zu verbringen, der zu solchem Jähzorn fähig war? Nach ein oder zwei Monaten begann Rudolf sich zu beruhigen, und bis Weihnachten hatten sich seine Tobsuchtsanfälle ganz gelegt. Der Winter verlief ruhig, das weiß ich noch, aber dann kam der Frühling, Mai achtundsechzig, und das ganze Land explodierte. Für mich war das eine der großartigsten Zeiten meines Lebens. Ich demonstrierte, ich marschierte mit, ich war dabei, als meine Schule geschlossen wurde, und plötzlich war ich eine Aktivistin geworden, eine glühende Revolutionärin, eine Agitatorin, die die Regierung stürzen wollte. Meine Mutter sympathisierte mit den Studenten, während der stockkonservative Rudolf nichts als Verachtung für sie übrig hatte. Er und ich sind uns in diesem Frühjahr mehrmals fürchterlich in die Haare geraten, haben uns heftig gestritten um Recht und Gerechtigkeit, Marx und Mao, Anarchie und Rebellion, und zum ersten Mal war Politik nicht einfach nur Politik, sondern eine persönliche Angelegenheit. Meine Mutter saß zwischen zwei Stühlen und wurde immer unglücklicher, immer schweigsamer und zog sich immer mehr zurück. Die Scheidung von meinem Vater sollte Anfang Juni endgültig abgeschlossen sein. In Frankreich müssen scheidungswillige Paare ein letztes Mal mit einem Richter sprechen, bevor er die Papiere unterschreiben darf. Er fordert die beiden auf, es sich noch einmal zu überlegen, ihren Entschluss zu überdenken und mit sich ins Reine zu kommen, ob sie das wirklich wollen. Mein Vater war im Krankenhaus - ich nehme an, das wissen Sie -, und meine Mutter ging allein zum Richter. Als er sie fragte, ob sie noch irgendwelche Zweifel an ihrem Entschluss habe, sagte sie ja, sie habe es sich anders überlegt und wolle die Scheidung nicht mehr. Damit schützte sie sich vor Rudolf, verstehen Sie. Sie wollte ihn nicht mehr heiraten, und

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