Unsichtbar
korpulente Frau von achtundfünfzig geworden, mit kurzen braunen Haaren (gefärbt, an den Wurzeln stellenweise grau, wie ich bemerkte, als sie mir die Hand schüttelte und dann mir gegenüber Platz nahm), einem schon etwas faltigen Gesicht, einem schon etwas schlaffen Kinn und immer noch denselben aufmerksam umherhuschenden Augen, die Walker bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen waren. Sie wirkte zwar ein wenig fahrig, war aber keinesfalls mehr das zitternde, nagelkauende Nervenbündel, das ihrer Mutter in der Vergangenheit so große Sorgen gemacht hatte. Sie war eine Frau, die mit sich im Reinen war, eine Frau, die seit der Zeit, als Walker sie gekannt hatte, einen weiten Weg gegangen war. Kaum hatte sie sich gesetzt, zog sie ein Päckchen Zigaretten hervor, was mich schon ein wenig überraschte; zu meiner noch größeren Überraschung erwies sie sich als starke Raucherin mit dem rasselnden Husten und der rauen Altstimme einer altgedienten Tabakgenießerin. Als der Kellner an unseren Fisch kam und sich nach unseren Wünschen erkundigte, bestellte sie Whiskey. Pur. Ich sagte, er solle zwei davon bringen.
Ich hatte mich auf eine spröde, exzentrische Oberlehrerin eingestellt. Vielleicht war Cecile früher exzentrisch gewesen, aber die Frau, die ich an diesem Tag kennenlernte, war unkompliziert, humorvoll und unterhaltsam. Sie war schlicht, aber elegant gekleidet (für mich ein Zeichen von Selbstvertrauen, von Selbstachtung), und wenn sie auch für Lippenstift und Nagellack nichts übrigzuhaben schien, machte sie in ihrem grauen Kostüm - mit silbernen Armreifen an beiden Handgelenken und einem bunten Schal um den Hals - einen ganz und gar weiblichen Eindruck. Im Lauf unseres ausführlichen, zwei Stunden währenden Gesprächs erfuhr ich, dass sie fünfzehn Jahre lang zur Psychoanalyse gegangen war (vom zwanzigsten bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr), eine Ehe und eine Scheidung hinter sich hatte, ein zweites Mal geheiratet hatte (einen Mann, der zwanzig Jahre älter war als sie und 1999 gestorben war), und dass sie keine Kinder hatte. Zu Letzterem bemerkte sie: Ja, manchmal bedaure ich das, aber die Wahrheit ist, dass ich vermutlich eine schreckliche Mutter gewesen wäre. Ich bin dafür einfach nicht geeignet.
In den ersten zwanzig oder dreißig Minuten sprachen wir hauptsächlich von Adam. Cecile wollte alles wissen, was ich ihr von seinem Leben seit dem Zeitpunkt, als sie den Kontakt zu ihm verloren hatte, erzählen konnte. Ich erklärte, auch ich hätte den Kontakt zu ihm verloren, und da wir die Verbindung erst kurz vor seinem Tod wiederaufgenommen hätten, sei meine einzige Informationsquelle der Brief, den er mir im vergangenen Frühjahr geschickt habe. Einen nach dem anderen trug ich ihr die wesentlichen Punkte vor, die Walker erwähnt hatte - wie er am Abend seines Collegeexamens die Treppe hinuntergefallen war und sich das Bein gebrochen hatte; sein Glück bei der Auslosung der Wehrpflichtigen; sein Umzug nach London und die Jahre des Schreibens und Übersetzens; die Veröffentlichung seines ersten und einzigen Buchs; der Entschluss, das Dichten aufzugeben und Jura zu studieren; seine Arbeit als Anwalt im Dienst der Gemeinschaft in Nordkalifornien; seine Ehe mit Sandra Williams; die Probleme eines gemischtrassigen Paars in Amerika; seine Stieftochter Rebecca und ihre zwei Kinder -, und dann fügte ich hinzu, falls sie mehr erfahren wolle, solle sie sich vielleicht einmal mit seiner Schwester treffen, die ihr bestimmt gern jede Menge weitere Einzelheiten mitteilen werde. Wie versprochen brach Cecile in Tränen aus. Ich fand das rührend: Sie kannte sich so gut, dass sie diese Tränen hatte vorhersagen können, sie hatte diesen Gefühlsausbruch vorausgesehen, und dennoch war daran nichts Gezwungenes oder Gewolltes. Die Tränen waren echt, sie kamen spontan, und obwohl auch ich damit gerechnet hatte, tat sie mir aufrichtig leid.
Sie sagte: Ich habe hier in der Gegend gelebt. Nur dreißig Sekunden entfernt, in der rue Mazarine. Eben auf dem Weg hierher bin ich an dem Haus vorbeigekommen - das erste Mal seit Jahren, dass ich in dieser Straße war. Ist das nicht seltsam? Seltsam, dass dieses Hotel nicht mehr existiert, dieser schreckliche, heruntergekommene Kasten, in dem Adam gewohnt hat. In meiner Erinnerung ist das alles noch so lebendig, wie kann es denn einfach nicht mehr da sein? Ich war dort nur ein einziges Mal, und auch nur für ein, zwei Stunden, aber ich kann es nicht vergessen, es lebt immer
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